Prozesse der Radikalisierung und des Extremismus bedrohen europäische Gesellschaften auf vielfältige Weise. Doch wie reagieren unterschiedliche Institutionen auf islamistische Anschläge und welche gesellschaftlichen Folgen resultieren daraus? Welche Rolle spielen Sozialisation und Ressentiments bei Prozessen der (De-)Radikalisierung? Was charakterisiert salafistische Ideologien?
Diese und weitere Fragen hat die RADIS-Ringvorlesung 2023 und 2024 an verschiedene Universitäten getragen. In zwölf Vorträgen aus verschiedenen Projekten werden jeweils aktuelle Aspekte aus der Förderlinie beleuchtet.
„Alles ist Wechselwirkung“, so Alexander von Humboldt 1803/04 in seinem mexikanischen Tagebuch. Unter dieser Perspektive entfaltet der Vortrag das Hin und Her der gegenseitigen Einflüsse und Wirkungen, kurz: der Wechselwirkungen, um die Begriffe „radikal“, „Islam“ und „Muslim:innen“ im Geflecht der deutschen Gesellschaft. Beispiele kommen aus den empirischen Feldern des Projekts „Wechselwirkungen“ an der FAU Erlangen-Nürnberg und der Universität Heidelberg. Dabei nehmen die Forschenden gezielt muslimische Perspektiven ein: Sie untersuchen menschenrechtliche Effekte von Anti-Terrorismus-Maßnahmen oder erforschen mit Experimenten, wie sich die Wahrnehmung von systemischer Diskriminierung auf Muslim:innen auswirkt. Weitere Studien betrachten die Wechselwirkungen zwischen anti-muslimischen Akteuren und islamistischen Gruppierungen im städtischen Raum, den Islamischen Religionsunterricht sowie Freitagspredigten in Deutschland. Im Bereich Social Media wird im Projekt eine Analyse innerislamischer Kommunikationsmuster in Facebookgruppen für muslimische Frauen durchgeführt.
Dr. Jörn Thielmann (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen)
Aus dem Projekt Wechselwirkungen
This lecture discusses the relationship between the radicalized margins and the mainstream. Radicalized actors/ideologies and the mainstream are usually considered opposing poles. The mainstream is often portrayed as moderate and centrist in terms of its convictions and policies and placed in opposition to the far-right and far-left. In this lecture,recent insights on the “normalization” of far right actors and attitudes (Ruth Wodak, Cas Mudde) are presented, paying particular attention to “the mainstream” as a (heterogeneous) agent accommodating, aligning, justifying, and normalizing far-right actors, actions, and attitudes, as well as the reasons why and the circumstances under which this happens.
Prof. Dr. Sabrina Zajak (DeZIM-Institut Berlin)
Aus dem Projekt RaMi
Zahlreiche Studien der letzten Jahre weisen darauf hin, dass es kein Zufall ist, wer sich radikalisiert, bzw. dass es konkrete Risikofaktoren dafür gibt. Daher kann auch davon ausgegangen werden, dass es kein Zufall ist, wo Radikalisierung häufiger auftritt. Entsprechend untersucht das Projekt „Radikalisierende Räume“ (RadiRa) sowohl individuelle als auch räumliche Einflüsse auf die Anfälligkeit für Radikalisierung mittels unterschiedlicher Methoden fallvergleichend in drei Städten: Neben einer ethnografischen Erhebung des jeweiligen Stadtteillebens und den salafistischen „Hotspots“ darin finden standardisierte Befragungen sowie leitfadengestützte Interviews mit Expert:innen und Bewohner:innen statt . Im Vortrag werden Ergebnisse und Konsequenzen für die Präventionspraxis diskutiert.
Prof. Sebastian Kurtenbach (FH-Münster)
Aus dem Projekt RadiRa
Antisemitismus unter Muslim:innen avancierte in den letzten Jahrzehnten zu einem immer wieder kontrovers verhandelten Thema – während die einen hier einen „neuen Antisemitismus“ ausmachten, kritisierten andere vor allem potenziell rassistische Stereotypisierungen von Muslim:innen. Im Fokus des Vortrags steht die Frage danach, wie Jüdinnen und Juden als primäre Betroffene von Antisemitismus dies aktuell erleben und deuten:
Die quantitativen und qualitativen Befunde des Projekts ArenDt unterstreichen jeweils, dass Jüdinnen und Juden diesbezüglich eine differenzierte Perspektive einnehmen. Die Befragten erklären Antisemitismus nicht zu einem per se „muslimischen Problem“, betonen jedoch gleichzeitig, dass Antisemitismus aus dem Bereich des politischen Islams im Alltag klar eine Bedrohung darstellen kann. Mittels eines Survey-Experiments wird gezeigt, dass Jüdinnen und Juden einen Unterschied zwischen der muslimischen Glaubensgemeinschaft als Ganzes und einem radikalen Teil derselben machen, wenn es um die Bedrohung durch Antisemitismus geht. Für den Umgang mit letzterem ist für Jüdinnen und Juden dabei insbesondere die Frage nach offener Gewalt ein wichtiges Bewertungskriterium.
Bjarne Goldkuhle und Niklas Herrberg (Universität Düsseldorf)
Aus dem Projekt ArenDt
Welche Auswirkungen hat Islamismus auf die muslimischen Communities in Deutschland? Wie reagieren muslimische Verbände, Vereine, Initiativen und Einzelpersonen auf den Druck, den Islamist:innen auf sie ausüben, z.B. durch Vorwürfe, die Moscheevereine hätten in der Diaspora den Zugang zum „wahren Islam“ verloren, oder die offensive Anwerbung von Jugendlichen in Vereinen und Schulen? Und wie beeinflusst zugleich das Spannungsfeld zwischen islamistischen und antimuslimischen Bedrohungen die Glaubensausübung und Identitätsbildung von Muslim:innen in Deutschland? Sind im Zuge der Reaktionen auf diese Bedrohungen Hybridisierungsprozesse erkennbar? Analog zu historischen Adaptationsformen des Islam, in denen in unterschiedlichen Kontexten von einem „Türkischen Islam“, „Indonesischen Islam“ oder auch einem „Französischen Islam“ etc. die Rede ist, untersucht das Projekt D:Islam, ob eine spezifische Form eines „Deutschen Islam“ erkennbar ist. Im Vortrag werden Artikulationsformen des "Deutschen Islam" beleuchtet und es wird diskutiert, inwiefern dieser als ein extern erzwungenes Konzept (Stichwort „Staatsislam“) wahrgenommen wird und welche Rolle möglicherweise auch Abgrenzungen gegenüber Islamismus oder religiöse Steuerungen aus den ehemaligen Herkunftsländern spielen.
Dr. Özgür Özvatan (BIM/ Humboldt-Universität zu Berlin)
Aus dem Projekt D:Islam
Wenn man auf Radikalisierung schaut, dann wird immer häufiger auf wechselseitige Effekte verwiesen – Prozesse der Co-Radikalisierung. Dabei beginnen Radikalisierung und Co-Radikalisierung nicht erst, wenn mit Fäusten aufeinander eingeschlagen wird, sie beginnen bereits, wenn sich Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen. Oft entstehen dabei auch demokratiefeindliche Einstellungen und verfestigen sich. Autoritäre Persönlichkeitsstrukturen, Verschwörungsmentalität, aber auch fundamentalistische religiöse Überzeugungen können Triebkräfte sein. Im Vortrag werden mit den Daten der LAS-RIRA-Studie 2022 und einer Zusatzbefragung unter Muslim:innen Ende 2022 Prozesse und Faktoren der Radikalisierung herausgearbeitet. Dabei werden wechselseitige Beeinflussungen, wie z.B. die starke Relevanz einer Ablehnung des Islam und von Muslim:innen im politisch rechten Spektrum, aber auch die negative Wirkung von Diskriminierungserfahrungen herausgearbeitet. Die Ergebnisse repräsentieren einen zentralen Teil des Projekts "Radikaler Islam - Radikaler Anti-Islam" (RIRA).
Cemal Öztürk und Prof. Dr. Susanne Pickel (Universität Duisburg-Essen)
Aus dem Projekt RIRA
Wie werden Diskriminierungs- und Kränkungserfahrungen verarbeitet? Welche positiven oder negativen Gefühlskulturen entstehen daraus, und zu welchen Formen von Identifikationen und Teilhabe führen sie? Und welche Affekte, mit besonderem Fokus auf Ressentiment, kommen dabei ins Spiel? Auf Grundlage von bislang über 50 qualitativen Interviews mit mehr als 80 Proband:innen in neun deutschen Städten geht das Projekt Gefühlskultur in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Verweigerung, Teilhabe und Ressentiment diesen Fragen nach. Das Zitat im Titel, das einem der Interviews entstammt, deutet eine komplexe Affektlage an, die in der Vorlesung am Beispiel konkreter Fälle soziohistorisch wie auch gegenwartsbezogen für die deutsche Einwanderungsgesellschaft aufgezeigt wird.
PD Dr. Özkan Ezli und Prof. Dr. Levent Tezcan (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Aus dem Projekt Ressentiment
Die Vorlesung gibt Antworten auf die Frage, inwieweit sich beim gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Islamismus in Deutschland durchgängige Trends und Logiken aufzeigen lassen. Anhand gesellschaftlicher Debatten zu islamistischen Aktivitäten bis hin zum Terrorismus wird zum einen analysiert, welche Forderungen aus der Gesellschaft an den Staat herangetragen werden. Zum anderen wird untersucht, welche eigenen Wahrnehmungen Politik, Verwaltung, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Gruppen in Bezug auf Islamismus haben, welche Ziele sie dabei verfolgen und ob sich aus den Interaktionen der Beteiligten ein konsistenter Umgang mit Islamismus ergibt.
PD Dr. Martin Kahl (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg)
Aus dem Projekt KURI
Nach Anschlägen mit islamistischem Hintergrund sowie nach islamfeindlichen Angriffen in Deutschland erleiden muslimische Organisationen oftmals Reputationsschäden. Deshalb ist die Reaktion der Organisationen auf solche Ereignisse in Form von Krisenkommunikation von hoher Relevanz. Auf Grundlage der Situational Crisis Communication Theory (SCCT) von Coombs wurden alle öffentlich zugänglichen Stellungnahmen muslimischer Organisationen zu Anschlägen, die in Pressemitteilungen, auf Social-Media-Accounts und in Zeitungsberichten von zwischen 2015 und 2020 festgehalten wurden, gesammelt und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die Ergebnisse werden in der Vorlesung vorgestellt.
Elif Durmaz (FH Bielefeld)
Aus dem Projekt OKAI
An Schulen insgesamt sowie insbesondere an den neu geschaffenen islamischen Religionsunterricht werden vielfältige gesellschaftspolitische Erwartungen gestellt. So sollen unter anderem die gesellschaftliche Integration und der Abbau von Vorurteilen gefördert werden, aber auch Radikalisierungen vorgebeugt werden. Doch sind der islamische Religionsunterricht speziell und die Schule insgesamt überhaupt auf diese wichtigen Aufgaben vorbereitet? Was kann Schule und Unterricht in diesem Zusammenhang leisten und wo liegen die Grenzen? Diesen und anderen Fragen geht das Projekt UWIT nach, u.a. durch eine umfassende Dokumentenanalyse der Studienmodule an Hochschulstandorten, die Islamische Theologie unterrichten, sowie durch eine qualitative Interviewstudie mit 26 Dozierenden des Fachs. Erste Ergebnisse aus der Studie werden in der Vorlesung präsentiert.
Alexandra Schramm (Universität Vechta)
Aus dem Projekt UWIT
Sozialisationsinstanzen, wie etwa die Herkunftsfamilie, Partnerinnen und Partner, Freunde und die Freundinnen sowie die Peergroup der Gleichaltrigen, spielen meist eine zentrale Rolle in der Radikalisierung junger Menschen. Ebenso sind institutionelle Instanzen, wie etwa die Schule und die Arbeitswelt, bedeutende Einflussgrößen. Ansätze der Prävention und Beratung fokussieren daher auf die Wirkungspotentiale all dieser Akteur:innen, um Radikalisierung frühzeitig vorzubeugen bzw. Prozesse der Abwendung zu initiieren. In der Vorlesung präsentiert das Forschungsprojekt Distanz Ergebnisse aus zwei Interviewstudien, in denen 25 Interviews mit Berater:innen zu ihrer Beratungsarbeit geführt wurden sowie weitere Berater:innen jeweils den Verlauf eines konkreten Fall aus ihrer Deradikalisierungsarbeit schildern konnten. Darüber hinaus wird die Perspektive der Berater:innen durch ein Interview mit einem Betroffenen ergänzt, welches die Rolle von Sozialisationsinstanzen im individuellen Prozess der Radikalisierung bis zu hin zur Abwendung verdeutlicht.
Prof. Dr. Mehmet Kart (IU Internationale Hochschule) und
Eike Bösing (Universität Vechta)
Aus dem Projekt Distanz
Religiöse Überbietungen werden unter muslimischen Theologen als religiöse Übertreibungen (Mughalāt) thematisiert. Doch sind verschiedene Fragen noch nicht hinreichend beantwortet, besonders in Hinblick auf moderne Kontextualitäten, Verlaufsmuster und gesellschaftliche Folgen. Die Vorlesung geht diese Fragen am Beispiel des Salafismus im Feld des Islam nach und arbeitet kontextbezogen, mit Blick auf Deutschland und Marokko, heraus, wann und unter welchen Bedingungen religiöse Überbietungskämpfe zu jenen Konflikten führen, die Polarisierung und Radikalisierung unter Muslimen begünstigen.
Dr. Youssef Dennaoui (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen)
Aus dem Projekt Deutungsmacht