Beteiligt waren die Leitung des städtischen Präventionsrats, lokale Fachpraktiker:innen sowie die Forschungsprojekte Distanz, RadiRa, RIRA und Teammitglieder des Transferprojekts RADIS selbst.
Text Lars Schäfer, Alexander Swidziniewski // RADIS, Violence Prevention Network
Redaktion & Grafik Ute Seitz // RADIS, PRIF
*Wir verzichten bewusst auf die Nennung der Stadt, um Einflüsse auf die dortige Präventionsarbeit zu minimieren.
Der lokale Präventionsrat möchte ein Evaluationsdesign entwickeln, das die Maßnahmen der vorhandenen Präventionsprojekte in der Stadt analysiert und die Wirksamkeit von Ansätzen und Methoden abbildet. Auf dieser Basis sollen bestehende Lücken hinsichtlich des religiös begründeten Extremismus geschlossen werden. Im Rahmen des Ideenaustauschs haben die Teilnehmer:innen darüber gesprochen, mit welchen Ansätzen und Kriterien sich ein solches Design entwickeln lässt. Darüber hinaus war ein Thema, was die Voraussetzungen sind, um die Präventionslandschaft der Stadt weiterzuentwickeln.
Der städtische Präventionsrat agiert in einem teilweise rechts und autoritär geprägten Sozialraum. Deutschlandweit, aber lokal in besonderem Maße, gehören dazu vermehrte Vorurteile in der Zivilgesellschaft gegenüber Zuwanderung, eine wachsende Anschlussfähigkeit rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Weltanschauungen sowie hohe Zustimmungswerte zu autoritären Einstellungen. Ressentiments gegenüber Migrant:innen haben sich verschärft, besonders betroffen sind dabei Muslim:innen (vgl. Leipziger Autoritarismus Studie 2020, Mitte-Studie 2020/21).
Vor diesem Hintergrund wurde der Präventionsrat mit dem Vorwurf konfrontiert, dass hohe Summen in die politische Bildung und Präventionsarbeit investiert werden, aber die Wirksamkeit der lokalen Maßnahmen nicht sichergestellt ist. Neben der Analyse der bisherigen Maßnahmen sieht der Präventionsrat die Notwendigkeit, die Prävention von religiös begründetem Extremismus rechtzeitig mitzudenken, um bisher nicht in Erscheinung getretene Co-Radikalisierung zu verhindern.
Der Präventionsrat befürchtet allerdings, dass sich dadurch Stereotypen und Vorurteile gegenüber Muslim:innen verstärken könnten. Außerdem könnte eine Implementierung dazu führen, dass sich die muslimische Zivilgesellschaft ggf. stigmatisiert und unter Generalverdacht gestellt sieht, obwohl die Herausforderungen der Stadt eher im Phänomenbereich des Rechtsextremismus zu verorten sind. Die Prävention des religiös begründeten Extremismus wird daher als sensible Aufgabe wahrgenommen. Einen Ansatz, dieser komplexen sozialräumlichen Situation zu begegnen, sieht der Präventionsrat in der universellen Radikalisierungsprävention.
Diese Ausgangssituation motivierte die Leitung des Präventionsrats, auf das RADIS-Forschungsprojekt Radikalisierende Räume (RadiRa) zuzugehen. Das Projekt beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema (religiös begründeter) Radikalisierung im städtischen Raum und den räumlichen Einflüssen auf die Anfälligkeit für Radikalisierung. Die Forschenden betrachten Aspekte des Sozialraums in Zusammenhang mit den darin wirkenden Präventionsakteur:innen und der Stadtverwaltung sowie ihren Beziehungen untereinander. In einem ersten Workshop mit dem Projekt RadiRa, dem Präventionsrat und weiteren Expert:innen entstand nach kritischer Reflexion des Konzepts die Idee, mit externer Unterstützung ein Evalutionsdesign für die Präventionslandschaft der Stadt zu erarbeiten. Der Wunsch des Rats nach einem Tool zur Selbstevaluation wurde zunächst zurückgestellt, um interessengebundene Evaluation zu vermeiden.
Um weitere Kriterien für ein Evaluationsdesign zu diskutieren, wurden die Forschungsprojekte RIRA und Distanz eingebunden, sowie Expert:innen des Transfervorhabens RADIS selbst. Das Projekt Distanz erforscht, wie Prozesse der Abwendung von radikalen Einstellungen stattfinden. Unter anderem haben die Forschenden die Wirksamkeit unterschiedlicher Instrumente in der Radikalisierungsprävention untersucht und dabei zwei Präventionsprojekte intensiv begleitet. Im Projekt RIRA wird das Phänomen der Co-Radikalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert.
Die Wirkung der Angebote in den Sozialraum kann nicht ausschließlich mit quantitativen Mitteln bestimmt werden. Um nachzuweisen, ob Präventionsarbeit gelingt, müssen erhobene Zahlen durch qualitative Aussagen in einen Kontext eingebettet werden. Es reicht also beispielsweise nicht aus, zu ermitteln, wie viele Personen an Veranstaltungen der politischen Bildung teilnehmen. Deshalb gibt es den Bedarf nach einem Evaluationsdesign, bei dem der Fokus auf der niedrigschwelligen Identifizierung dessen liegt, was gut läuft und was von den Zielgruppen angenommen wird, was ausgebaut werden kann und welche Leerstellen es gibt.
Der erste Schritt des Präventionsrats bestand in der Auflistung aller Angebote in der Stadt sowie der Identifizierung dieser anhand der im Handbuch Extremismusprävention definierten Kriterien und Präventionsebenen. Anknüpfend an den Austausch mit der Projektleitung von RadiRa wurde entschieden, den Sozialraum stärker zu berücksichtigen, in dem Konfliktpotential vermutet wird bzw. sich belegen lässt.
Mit der Expertise aus Fachpraxis und Wissenschaft wurden nun weitere Bedingungen erörtert, die für das Evaluationsdesign und die Weiterentwicklung der Angebote wichtig sind. Zentral ist dabei die Frage, wo die Stadt überhaupt Wirkungen erzielen möchte.
Die einzelnen Bereiche und Maßnahmen mit ihren jeweiligen Wirkungsebenen könnten jeweils nur ein „Mosaikstein der Gesamtstrategie“ sein, gab ein Wissenschaftler zu bedenken. Deshalb sei es im Evaluationsdesign notwendig, den Fokus nicht nur auf Einzelmaßnahmen im Sozialraum, sondern auf die Vernetzung der Angebotslandschaft an sich zu legen, um blinde Flecken zu vermeiden. Erst durch die Nachvollziehbarkeit des Netzwerks und die Identifizierung von Verantwortlichkeiten würden Wirkungszusammenhänge sichtbar. Es handele sich um eine mühsame Perspektivenverschiebung, für die mehr Zeit investiert werden müsse, um „impact stories“ einzuholen. Während in den Überlegungen bisher noch nicht berücksichtigt wurde, an welchen Orten soziale Einrichtungen ansässig sind, solle nun untersucht werden, wer mit welchen Methoden und mit welchen Zielen in den jeweiligen Stadtteilen arbeitet. Weiter sei wichtig zu fragen, welche der Maßnahmen funktionieren und welche nicht.
Eine andere Wissenschaftlerin lobte den Versuch des Rats, die Präventionsangebote zu systematisieren. Auch sie betonte das Potential einer Netzwerkanalyse, an der sich viel ablesen und verorten lasse. An der bereits erfolgten Auflistung lasse sich z.B. schon ablesen, dass die Sekundär- und Tertiärprävention, also Angebote für gefährdete Gruppen und bereits radikalisierte Personen, eine Lücke in der Angebotslandschaft der Stadt darstellt. Bei bereits verhärteten Strukturen seien diese Angebote allerdings wünschenswert.
Auf Basis einer Evaluation, die die sozialräumliche Analyse der Angebote und Netzwerke einschließt, können potentielle Kooperationspartner:innen ermittelt werden. Gemeinsam mit diesen Partner:innen lässt sich gemeinsam eine Präventionsstrategie für die verschiedenen Phänomenbereiche entwickeln.
Ein Wissenschaftler in der Runde unterstrich die Wichtigkeit von multiprofessionell zusammengesetzten Teams, die sich der Entwicklung einer Präventionsstrategie widmen. Hier wurden jedoch auch die Grenzen sozialwissenschaftlicher Konzepte deutlich, die auf die Realität in der Praxis stoßen. Das betrifft in diesem Kontext sowohl den Widerstand einiger Akteur:innen gegenüber multiprofessionellen Teams, als auch das fehlende Vertrauen in die Zusammenarbeit mit bspw. (Sicherheits-)Behörden. Es hat sich außerdem gezeigt, dass manche Netzwerkpartner*innen wenig offen für Veränderungen sind, gerade wenn die Impulse dafür von außen kommen. Gründe dafür können mangelnde Zeit und Ressourcen sein, aber auch die fehlende Einsicht in den Mehrwert der angestrebten Veränderung. Damit fehlt die Motivation, die Veränderungsimpulse aktiv aufzugreifen.
Es erfordert eine Sensibilisierung aller beteiligten Akteur:innen dafür, dass Veränderungen in den Präventionsmaßnahmen notwendig sind, um einem Konzept der universellen Prävention gerecht zu werden. Hier reicht es nicht aus, alle im Sozialraum Beteiligten an einen Tisch zu holen. Vielmehr sollte erreicht werden, dass die Akteur:innen ein Verständnis für die Veränderungsprozesse und -ziele entwickeln und dafür, dass diese Veränderungen in spezifischen Situationen nur in Kooperation mit anderen Partner:innen (Behörden, Verwaltung) zu erreichen sind. Es müssen Personen oder Stelleninhaber:innen in dem jeweiligen Bezirk/der jeweiligen Stadt vorhanden sein, die dafür Zeit und Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen. Radikalisierungsprävention darf dabei nicht die Aufgabe der Integrationsbeauftragten sein, je nach Umfang der Angebote braucht es eine eigene Stelle zur Koordination. Veränderungen im Sozialraum stellen langfristige Prozesse dar, die eine sorgfältige Begleitung notwendig machen, weil sie die Haltungen, Motivationen und Beziehungsebenen zwischen verschiedenen Stakeholdern betreffen.
Ein beteiligter Wissenschaftler betonte, dass muslimische oder migrantische Organisationen wichtige Netzwerkpartner für die Prävention seien und in der Entwicklung der Präventionsstrategie berücksichtigt werden sollten. Allerdings müssten diese Organisationen aktiv kontaktiert werden, da sie aufgrund fehlender zeitlicher Kapazitäten und anderer Ressourcen, oft nicht selbst die Initiative ergreifen. Dies wird irrtümlicherweise als fehlendes Interesse interpretiert.
Eine Fachpraktikerin unterstrich diese Erfahrung und führte zudem aus, dass bspw. Moscheegemeinschaften gute Integrationsarbeit leisten. Es sei immens wichtig, dass alle zusammen- und nicht nebeneinander arbeiten. Kommunikation und Hilfsangebote wären dabei essentiell, da es sonst zu Missverständnissen kommen könne, die im Nachhinein schwer zu lösen seien. Ein weiteres Problem im professionellen Rahmen seien nicht thematisierte gesellschaftliche Konflikte, ausgelöst durch einen fragwürdigen Umgang mit Migration und der damit entstehenden Perspektivlosigkeit bei Migrant:innen. Wenn beispielsweise religiös begründete Radikalisierung allein als migrantisches Problem gesehen wird, werden vorurteilsbelastete Narrative bestärkt. Die Netzwerkarbeit mit migrantischen und muslimischen Organisationen erfordert einen sensiblen Umgang mit derlei Zusammenhängen, um konstruktive Ergebnisse hervorzubringen.
Besonders wenn Präventionsprojekte durch städtische Mittel gefördert werden, stehen die Trägerinitiativen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Verwaltung. Das kann die Netzwerkarbeit beeinflussen und sollte insbesondere im Evaluationsvorhaben bedacht werden.
Im Rahmen des Austauschs betonte ein Fachpraktiker diesbezüglich, dass die Frage nach den Erfolgen von Präventionsprojekten zu Unsicherheiten führen kann. Bei Akteur:innen aus der Praxis gebe es häufig die Sorge, dass eine kritische Evaluation das Ansehen der Institution oder die Finanzierung von Projekten gefährden könnte. Diese Sorge beeinflusst, wie etwas bei einer Fremd- oder Selbstevaluation gesagt wird, denn im schlimmsten Fall könnte dadurch die eigene Anstellung auf dem Spiel stehen. Gleichzeitig bietet Evaluation die Chance, die Qualität der eigenen Arbeit zu erhöhen und dementsprechend auch das Ansehen einer Institution zu sichern. Diese Zusammenhänge und Machtverhältnisse sollten im Evaluationsdesign bedacht werden, um Verzerrungen in den Ergebnissen zu vermeiden.
Der Präventionsrat möchte mit der Evaluation herausfinden, ob die geförderten Präventionsmaßnahmen eine positive Veränderung bewirken. Denn bevor neue Maßnahmen entwickelt werden, sollen entscheidende Indikatoren für den Erfolg von Prävention definiert werden. Sowohl für die Evaluation als auch den Ausbau der Maßnahmen muss zunächst beantwortet werden, wo das Hauptaugenmerk der Prävention liegen soll.
Ein wichtiges Ergebnis des Austauschs war der Impuls, Sozialraum und Netzwerke von Akteur:innen sowie die damit verbundenen Beziehungsebenen gemeinsam zu denken und zu reflektieren. Dafür ist ein geeignetes Evaluationstool nötig und die Praxis benötigt Unterstützung durch die Wissenschaft bzw. geeignete Evaluator:innen.
Unter einem systemischen Blickwinkel zeigen gewachsene Strukturen in einem Sozialraum Beharrungstendenzen und eine Abschottung nach außen. Dies sollte von wissenschaftlichen Akteur:innen berücksichtigt werden, indem neue und innovative Impulse zur Extremismusprävention nicht von außen als „fertiges Konzept“ angepriesen werden. Besser geeignet sind gemeinsame Beratungsprozesse, um Leerstellen und Änderungsvorschläge sowie Maßnahmen zur Lösung auf Augenhöhe zu reflektieren und unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen Kontextbedingungen anzupassen. Der beispielhaft dargestellte Ideenaustausch könnte ein konstruktiver Beginn zur passgenauen Entwicklung des Evaluationsvorhabens sein.
Weitere Aspekte für eine gelungene Wissenschaft-Praxis-Kooperation mit beispielhaften Abläufen der Zusammenarbeit werden in diesem Blogbeitrag genannt.
Im Rahmen des PrEval-Projekts (2020-2022) wurden zentrale Erkenntnisse zu Bedarfen, Kapazitäten und Strukturen zum Thema Evaluationen in Präventionskontexten in zehn Reports festgehalten. Diese können für den weiteren Verlauf der hier beschriebenen Entwicklung eines Evaluationsdesigns hilfreich sein. Momentan wird im Folgeprojekt PrEval 2 weiter zu Evaluation in Prävention, politischer Bildung und Demokratieförderung geforscht.
Ein Beispiel für die Zusammenarbeit mit migrantischen sowie muslimischen Organisationen stellt die Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA) in Sachsen dar.
Der Aufbau eines vertrauensvollen Dialogs mit muslimischen Communites wird hier beschrieben.