Religiöse Deutungsmachtkonflikte und Überbietungskämpfe im globalen Feld des Salafismus (Deutungsmacht)
Eine vergleichende Untersuchung salafistischer Überzeugungen zwischen Deutschland und Marokko
Das Projekt Deutungsmacht widmete sich den Formen und Transformationen innerislamischer religiöser Konkurrenzen im islamischen Feld am Beispiel des Salafismus. Salafistische Akteur:innen beteiligen sich weltweit an diesen Kämpfen und verfolgen in der Auseinandersetzung mit anderen institutionellen und nicht-institutionellen muslimischen Akteur:innen eine aggressiv-polemische Konkurrenzstrategie. Diese Strategie basiert auf Zuspitzungen und zielt darauf ab, ihre Gegner:innen mit allen – erlaubten und unerlaubten – Mitteln zu überbieten. Darin – so die These – liegt nicht nur das Konfliktpotenzial salafistischer Konkurrenzstrategien begründet, sondern auch ihre Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung und religiösen Radikalisierung. Projektleitend war daher die Frage, wie und unter welchen Bedingungen salafistische Überbietungsstrategien zu jenen Konflikten führen, die Radikalisierung begünstigen.
Diesen Fragen ging das Projekt mittels einer feldtheoretisch inspirierten und wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) in zwei unterschiedlichen Kontexten (Marokko und Deutschland) nach. Die Auswertung ausgewählter salafistischer Debatten in den beiden Kontexten zwischen 1990 und 2024 zielte darauf ab, diese inhaltlich und interpretativ zu rekonstruieren, um Überbietungsdynamiken in salafistischen Debatten sichtbar zu machen. Der Vergleich zwischen Deutschland und Marokko wurde durchgeführt, um die Rolle lokaler Besonderheiten gegenüber globalen Einflüssen bei der Entstehung salafistischer Überbietungsdiskurse besser einschätzen zu können.
Ergebnisse:
- Auf der Ebene der soziologischen Grundlagenforschung konnte ein neuer Begriff (Überbietung) in die Radikalisierungsforschung eingeführt, religionssoziologisch und feldtheoretisch begründet und für die eigenen Analysen des Phänomens operationalisiert werden.
- Auf diskursanalytischer Ebene wurde aufgezeigt, wann eine salafistische Überbietungsstrategie vorliegt und wie salafistische Überbietungsangriffe entstehen. Es wurde erarbeitet, wie sie diskursiv funktionieren und welche Deutungsmuster, Narrative und Gefühlsstrukturen ihnen zugrunde liegen: Salafistische Narrative von ‚Verlust‘ (der eigenen Religion) und ‚Errettung‘ spielen eine zentrale Rolle für die Attraktivität salafistischer Überbietungsdiskurse. Dabei konnte in fast allen Debatten eine innere Verbindung zwischen Verlustwahrnehmungen, Verlustgefühlen (Angst, Verbitterung, Hass und Wut) und Überbietungsstrategien herausgearbeitet werden und als eine zentrale Quelle für religiöse Radikalisierung identifiziert werden.
- Salafistische Überbietungsdiskurse begünstigen Radikalisierung durch den Einsatz polemischer Mittel der Gegenrede. Sie verschleiern Radikalisierung, weil diese Mittel von den Anhänger:innen salafistischer ‚Verlustprediger‘ nicht als solche wahrgenommen werden, sondern erst im Rahmen einer interpretativen Rekonstruktion als Treiber radikalisierter Diskurse identifiziert werden können.
- Überbietungsdiskurse wirken kompensatorisch, weil sie salafistischen Akteur:innen vor ihren Anhänger:innen temporär ‚religiöse Macht‘ verleihen und sie gegenüber institutionellen Akteur:innen im Islamfeld als gleichwertig erscheinen lassen.
- Die vergleichende Analyse zwischen Marokko und Deutschland hat ergeben: Die Themen salafistischer Überbietung unterscheiden sich zwar von Kontext zu Kontext, ihre Funktionsweisen und Folgen bleiben jedoch in beiden Kontexten identisch.
Empfehlungen:
- Die Projektergebnisse zeigen, dass sowohl Forschung als auch Präventionspraxis salafistische Überbietungsstrategien ernst nehmen sollten.
- Pädagog:innen und Präventionspraxis sind daher für die Wahrnehmung salafistischer Überbietungsdiskurse in Schulen und lokalen Präventionsorten zu sensibilisieren, im Umgang damit zu stärken und nach Bedarf fortzubilden.
- Auf religionspolitischer und wissenschaftlicher Ebene wird empfohlen, die Institutionalisierung des Islam in Deutschland noch stärker und nachhaltiger zu fördern, um der salafistischen (und auch islamistischen) Politisierung des Islam entgegenzutreten. Die akademische Institutionalisierung islamischer Theologie ist ein wichtiger Beitrag in diese Richtung. Hier sollte eine Theologie der Mitte und des Ausgleichs (Wasaṭīya), die es auch im Islam gibt, für den deutschen und europäischen Kontext gestärkt werden. Dadurch kann der salafistischen Theologie der Überbietung langfristig entgegengewirkt werden.