Leitung:
Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen:
Laufzeit: 12/2020 - 11/2024
TP 1: Prof. Dr. Susanne Pickel, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen
TP 2: Prof. Dr. Michael Kiefer, Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück; Prof. Dr. Dr. Rauf Ceylan Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück
TP 3: Prof. Dr. Riem Spielhaus, Georg-Eckert-Institut, Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung
TP 4: Prof. Dr. Gert Pickel, Abteilung für Religions- und Kirchensoziologie, Universität Leipzig; Prof. Dr. Oliver Decker, Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung, Universität Leipzig; Prof. Dr. Immo Fritsche Institut für Psychologie, Universität Leipzig; Prof. Dr. Frank Lütze Theologische Fakultät, Universität Leipzig
TP 5: Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan, Institut für Turkistik, Universität Duisburg-Essen
In den letzten Jahren nimmt die gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland zu. Sie zeigt sich in wechselseitigen Abstoßungsprozessen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Von besonderer Bedeutung ist die (wahrgenommene) Bedrohung durch den radikalen Islam bzw. Islamismus in der Mehrheitsgesellschaft. Solche Bedrohungswahrnehmungen fördern gruppenbezogene Vorurteile und erhöhen die Wahrscheinlichkeit wechselseitiger Radikalisierung, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Einige junge Muslim:innen suchen infolge von Abwertung und Diskriminierung eine Zuflucht in konservativen oder sogar islamistischen Gemeinschaften, die eine Radikalisierung begünstigen können. Die Präsenz des Islamismus und seine wiederkehrende Darstellung in den Medien verstärken zugleich Bedrohungswahrnehmungen in Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung. Dadurch profitieren rechtsextreme Parteien und Bewegungen, die aus Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit politisches Kapital schlagen.
Das Verbundprojekt RIRA führte angesichts dieser Radikalisierungsspirale eine transdisziplinäre und multimethodische Analyse durch. Es untersuchte die Wechselwirkungen, die aus gegenseitigen Bedrohungswahrnehmungen von Muslim:innen und Nicht-Muslim:innen entstehen, und beleuchtete ihre Auswirkungen auf die politische Kultur in Deutschland sowie auf Polarisierungs- und Radikalisierungsprozesse.
Zu diesem Zweck erfasste RIRA gesellschaftliche Einstellungen und Bedrohungswahrnehmungen gegenüber dem Islam, darunter Vorurteile, Hinweise auf Polarisierungen in den Intergruppenbeziehungen, Demokratievorstellungen und Religiosität. Parallel dazu beleuchtete das Projekt die Radikalisierung Jugendlicher und junger Erwachsener muslimischer Religionszugehörigkeit. Neben der Erhebung von Einstellungen analysierte RIRA Ursachen und Verläufe von Radikalisierungsprozessen. Aus der Betrachtung von Selbst- und Fremddeutungen, kollektiven Wahrnehmungsmustern und sozialen Dispositiven während der (Post-)Adoleszenz – einer Phase emotionaler Unsicherheit – entwickelte das Projekt geeignete Präventionsmaßnahmen. Im Fokus standen Interventionsmöglichkeiten an Schulen und Bildungseinrichtungen, für die Unterrichtsmaterialien und Fortbildungsformate entwickelt wurden. Darüber hinaus formulierte RIRA Empfehlungen zum Umgang mit medial vermittelten Zerrbildern und Deutungen, die langfristig die politische Kultur prägen können. Zu diesem Zweck stellte das Projekt mediengerechtes Informationsmaterial und empirische Grundlagenforschung zu Vorurteilen und ihren politischen Konsequenzen bereit.
Die (Co-)Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat einen zentralen Fluchtpunkt: die Entziehung von politischer Unterstützung gegenüber der Demokratie in Deutschland und Radikalisierungsintentionen, die in der Akzeptanz von Gesetzesbrüchen und Gewaltanwendungen zum Ausdruck kommen.
Im Zuge dieser (Co-)Radikalisierungsprozesse entsteht eine antidemokratische politische Kultur. Die Entwicklung der (Co-)Radikalisierung in Bezug auf politische Einstellungen verläuft phasenweise parallel und bezieht sich auf die jeweilige (politische) Gemeinschaft. Sie mündet in eine Ablehnung der Demokratie in Deutschland und in die Suche nach einem System, das die eigenen, nichtdemokratischen Werte bestärkt. Teilprojekt 1 setzte an verschiedenen Punkten dieser Radikalisierungsspirale an. Im Mittelpunkt standen Bedrohungswahrnehmungen, Vorurteile, der Rückzug in radikalisierte Gemeinschaften sowie die Empfänglichkeit für Überlegenheitsideologien (z. B. chauvinistischer Nationalismus oder religiöser Fundamentalismus) und ihre Effekte auf die Abkehr von der Demokratie und Radikalisierungsintentionen. Darüber hinaus wurden Wechselwirkungen von Diskriminierungserfahrungen und (Co-)Radikalisierung bei (nicht)muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersucht. Präventive Handlungsimpulse wurden darauf aufbauend im Rahmen einer Wissenschafts-Praxis-Vernetzung in der Rhein-Ruhr-Region erarbeitet.
Im zweiten Teilprojekt wurden in einem ersten Schritt alle relevanten Studien zum Thema Radikalisierung und Prävention der letzten Jahre – sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext – zusammengetragen. Diese Ergebnisse flossen in die von Prof. Dr. Susanne Pickel etablierte Literatur- und Materialdatenbank ein. Gleiches galt für die vom Projektteam um Michael Kiefer aufgearbeiteten Ergebnisse des Projekts „Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung“.
Der Fokus des zweiten Teilprojekts lag jedoch auf der Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Um die Frage nach Radikalisierung, Rahmenbedingungen für Radikalisierung und Gründen für Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu untersuchen, kamen qualitative Analysemethoden zum Einsatz. Es wurden sowohl biografische Interviews als auch Expert:inneninterviews durchgeführt. Hinzu kamen Interviews mit angehenden Lehrkräften für den Islamischen Religionsunterricht. Zweck dieser qualitativen Erhebung war es, Radikalisierungsprozesse zu rekonstruieren und mögliche Interventionsansätze bei Anzeichen von Radikalisierung zu identifizieren. Um eine Forschungslücke zu schließen, galt ein besonderes Augenmerk den Themenfeldern Konversion, Radikalisierung und Prävention, da in der Gruppe der Konvertit:innen in besonderer Weise Radikalisierungspotenziale wahrgenommen werden. Ziel war es zu eruieren, ob muslimische Konvertit*innen eine relevante Zielgruppe für Prävention darstellen.
Teilprojekt 3 analysierte islambezogene Unterrichtsmaterialien für den Geschichts-, Geographie- sowie Politik-/Sozialkundeunterricht. Dazu wurden Lehrpläne, Schulbücher und ergänzendes (Online-)Material der Sekundarstufen I und II ausgewertet. Die Analyse widmete sich den religiösen, kulturellen bzw. kulturalisierenden und politischen Implikationen sowie Leerstellen in Darstellungen des Islam und von Muslim:innen. Dabei wurde herausgearbeitet, welchen Einfluss relevante Lernpfade und Lernorte auf das Islambild haben. Die Erkenntnisse flossen in die Entwicklung pädagogischer Konzepte und Unterrichtsmaterialien ein, die auf der vom GEI betriebenen Webplattform www.zwischentoene.info zur Verfügung stehen.
Gemeinsam mit dem Museum für Islamische Kunst in Berlin organisierte das Projekt Workshops mit Verlagen und Schulbuchautor:innen und beriet sie zu fachlichen Fragen zum Thema Islam. Ziel war es, ein vielfältigeres und diversitätssensibles Islambild in Bildungsmedien zu fördern, welches den Islam nicht allein als Religion und Theologie, sondern auch als Teil eines vielseitigen künstlerischen und wissenschaftlichen Erbes beleuchtet. Außerdem wurde im Rahmen des Projekts eine Webtalkreihe durchgeführt, um verschiedene pädagogische und schulrechtliche Aspekte im Umgang mit islamistischen und rassistischen Anschlägen zu diskutieren. Eine Broschüre fasst die wichtigsten Inhalte der elf Webtalks zusammen und präsentiert Unterrichtskonzepte zu Bildern, Satire und Humor im Islam, zum Umgang mit Gewaltbildern sowie Unterrichtsempfehlungen von Fachdidaktiker*innen für Politik- und Religionsunterricht.
Das Leipziger Teilprojekt von RIRA verband verschiedene empirische Analysen von Radikalisierung und Co-Radikalisierung mit besonderem Blick auf das Alltagsleben. Mithilfe von Sekundäranalysen, experimentellen Erhebungsdesigns, Gruppendiskussionen, Expert:inneninterviews sowie der Beteiligung an der RIRA-Bevölkerungsbefragung wurden Radikalisierungsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Aufbauend auf den Leipziger Autoritarismus Studien beleuchtete das Projekt sowohl gesellschaftliche Umstände als auch sozialpsychologische Begründungen von Radikalisierung. Dabei zeigte sich: Wenn die Handlungsfähigkeit und die Kontrolle der eigenen Umwelt als bedroht wahrgenommen werden, verändert sich das soziale Denken und Handeln. Auch antimuslimische Vorurteile und rassistische Diskriminierung prägen Radikalisierungsprozesse im rechten politischen Spektrum. Vor allem eine aufgeladene Atmosphäre in der Bevölkerung erweist sich als Einstieg in eine Radikalisierungsspirale.
Die erzielten Ergebnisse des Teilprojekts 4 flossen in pädagogische Konzepte und Empfehlungen für Bildungsinstitutionen ein. Den Analysen lag die Annahme zugrunde, dass die Wahrnehmung des Islam im Ethik- und Religionsunterricht einen maßgeblichen Einfluss auf das Islambild von Heranwachsenden hatte. Deshalb fokussierten sich die entwickelten Materialien insbesondere auf den Religionsunterricht. Das Leipziger Teilprojekt berücksichtigte zudem die spezifische gesellschaftliche und politische Lage in Ostdeutschland, die durch eine besonders starke Ablehnung „des Islam“, geringe Kontakte zu Muslim:innen und ausgeprägte rechtsradikale Tendenzen gekennzeichnet ist.
Das Teilprojekt 5 führte die Erkenntnisse von RIRA mit Sekundärdaten zusammen und untersuchte sie systematisch im Hinblick auf Prozesse der Co-Radikalisierung und Polarisierung sowie deren Folgen. Es verknüpfte dabei unter anderem Befunde aus der Leipziger Autoritarismus-Studie mit Daten zu politischen Einstellungen und zur Religiosität von Türkeistämmigen, die das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) erhoben hat. Außerdem wurden Ergebnisse früherer Studien zu „Autoritarismus und Gewaltneigung“ bei deutschen und türkischen Jugendlichen einbezogen.
Ein weiteres zentrales Ziel des Teilprojekts war es, in Gruppendiskussionen – insbesondere mit türkeistämmigen Jugendlichen – Motive von Radikalisierung und Demokratiedistanz, aber auch die Folgen von Abwertungserlebnissen herauszuarbeiten. Die gewonnenen Ergebnisse wurden so aufbereitet, dass sie in die pädagogische Praxis des islamischen und christlichen Religionsunterrichts implementiert werden konnten.
Das RIRA-Projekt zeigt, dass rechtsextreme und islamistische Radikalisierung als Spirale von Feindbildern betrachtet werden kann. Extreme Rechte markieren Muslim:innen als Feindgruppe, während Islamist:innen die Mehrheitsgesellschaft für Diskriminierung verantwortlich machen. Antimuslimische Vorurteile können zur Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus werden, während Diskriminierung den Rückzug in religiös-fundamentalistische Milieus begünstigt – ohne zwangsläufig zur Abkehr von der Demokratie oder zu Gewalt zu führen. Gleichwohl verstärken Bedrohungswahrnehmungen und Kontrollverluste die Wahrscheinlichkeit solcher Prozesse, insbesondere bei Benachteiligungen durch Behörden. Auch Brückenideologien wie Antisemitismus oder die Ablehnung sexueller Vielfalt katalysieren Radikalisierungsprozesse. Schulen sind ein wichtiger Ort der Prävention: Neue Unterrichtsmaterialien und Demokratiestunden stärken demokratische Selbstwirksamkeit und wirken so Radikalisierungsprozessen entgegen.
Die vielen Befunde und Ergebnisse des RIRA-Projekts wurden bislang unter anderem in einem Sammelband (Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen für Radikalisierung und Co-Radikalisierung) sowie in zahlreichen peer-reviewed Artikeln veröffentlicht. Dazu gehört eine Special Section zum Thema „Radikalisierung, Religion und Politik“ in der Zeitschrift für Religion, Politik und Gesellschaft. Ergänzend stehen eine projekteigene Working Paper Series sowie zahlreiche Handreichungen und Broschüren zur Verfügung, die auf der Projektwebsite eingesehen werden können. Die Homepage des Projekts wird laufend aktualisiert.
Film "Das Projekt RIRA" | Länge 2"10' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann | PRIF 2021