Eckdaten

Leitung: 

  • Prof. Dr. Susanne Pickel, Universität Duisburg-Essen

Laufzeit: 12/2020 - 11/2024

Teilprojekte

 TP 1: Prof. Dr. Susanne Pickel, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen
 TP 2: Prof. Dr. Michael Kiefer, Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück 
 TP 3: Prof. Dr. Riem Spielhaus, Georg-Eckert-Institut, Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung
 TP 4: Prof. Dr. Gert Pickel, Abteilung für Religions- und Kirchensoziologie, Universität Leipzig
 TP 5: Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan, Institut für Turkistik, Universität Duisburg-Essen

Aktuelle Publikationen

  • Pickel, Gert/Pickel, Susanne (2023): Die Bürger in der Demokratie. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Kiefer, Michael/Uslucan, Haci-Halil/Mücke, Marvin/Kaya, Fatih (2023): Thesen zu Maßnahmen gegen (Co-) Radikalisierung, Working Paper 4, RIRA Working Paper Series. [Download]
  • Düsterhöft, Jan/Spielhaus, Riem/Shalaby, Radwa (2023): Schulbücher und Muslimfeindlichkeit: Zur Darstellung von Musliminnen und Muslimen in aktuellen deutschen Lehrplänen und Schulbüchern, Eckert. Dossiers 2. [Download]

Praxispartner

  • Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus und Demokratieforschung (KReDO), Universität Leipzig (Website)
  • Center for the Study of Religions (CSR), Universität Leipzig
  • Forschungsinstitut für Gesellschaftlichen Zusammenhalt (FGZ), Universität Leipzig (Website)
  • Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung e.V. (RISP), Universität Duisburg (Website)
  • Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFza) (Website)
  • Bildungseinrichtung Bocholt – Politische Bildung für Bundesfreiwilligendienste (Website)
  • Kommunales Integrationszentrum Duisburg (KI) (Website)
  • Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK), Leipzig (Website)
  • Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchanalyse (GEI), Braunschweig (Website)
  • Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI), Duisburg (Website)

Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam (RIRA)

Gesellschaftliche Polarisierung und wahrgenommene Bedrohungen als Triebfaktoren von Radikalisierungs- und Co-Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen und Post-Adoleszenten

In den letzten Jahren lässt sich in Deutschland eine Polarisierung in der Gesellschaft feststellen.  Diese Polarisierung kann auch aufgrund wechselseitiger Abstoßungsprozesse zwischen verschiedenen sozialen Gruppen diagnostiziert werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der (wahrgenommenen) Bedrohung durch den radikalen Islam bzw. Islamismus zu. Die Bedrohungswahrnehmungen bieten dabei den Nährboden für die Ausbildung gruppenbezogener Vorurteile. Daraufhin steigt  die Wahrscheinlichkeit einer wechselseitigen Radikalisierung, für die vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen empfänglich sind: Ein Teil junger Muslim:innen zieht sich aufgrund der Abwertungen und Diskriminierungserfahrungen in Sicherheit verheißende (und streng konservative oder sogar islamistische) Kollektive zurück, die ein Einfallstor für Radikalisierung darstellen (können). Die Präsenz des Islamismus und seine wiederkehrende Thematisierung in den Medien begünstigen wiederum die Verfestigung von Bedrohungswahrnehmungen in Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung. Dies spielt einer Radikalisierung in Richtung des Rechtsextremismus in die Karten, denn rechtsextreme Parteien und Bewegungen schlagen aus der Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit ihre Dividende. Die Beobachtung der rechtsextremen Mobilisierungserfolge befördert wiederum eine Radikalisierung im linken politischen Spektrum.

Ausgehend von dieser sich abzeichnenden Radikalisierungsspirale möchte das Verbundprojekt RIRA eine transdisziplinäre und multimethodische Analyse vorlegen. Der Fokus des Projekts richtet sich auf die Wechselwirkungen, die aus gegenseitigen Bedrohungswahrnehmungen von Muslim:innen und Nicht-Muslim:innen entstehen. RIRA untersucht dabei auch die mit der wechselseitigen Radikalisierung verbundenen Effekte auf die politische Kultur in Deutschland sowie auf Polarisierungs- und Radikalisierungsprozesse.

Dazu werden gesellschaftliche Einstellungen gegenüber dem Islam erfasst,  darunter auch Haltungen zu Vorurteilen, Polarisierung, Bedrohungswahrnehmungen sowie Demokratievorstellungen und Religiosität. Zudem erfolgt eine Untersuchung der in diesem Kontext stattfindenden Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen muslimischer und nicht-muslimischer bzw. keiner Religionsangehörigkeit. Auch Ursachen und Verläufe von Radikalisierungsprozessen werden untersucht. Mithilfe der Analyse von Selbst- und Fremddeutungen, kollektiven Wahrnehmungsmustern sowie sozialen Dispositiven während der (Post-)Adoleszenz – einer Lebensphase der emotionalen Verunsicherung – werden schließlich ziel- und ursachenadäquate Maßnahmen zur Radikalisierungsprävention entwickelt. Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen die Interventionsmöglichkeiten an Schulen und Bildungseinrichtungen. Diese werden z.B. in Form von Unterrichtsmaterialien oder Fortbildungsformaten festgehalten. Zum anderen werden Empfehlungen im Umgang mit medial vermittelten Zerrbildern und Deutungen entstehen, die auf lange Sicht einen prägenden Einfluss auf die politische Kultur haben können. Diesem Zweck dienen Filmprojekte, auf Medien zugeschnittenes Informationsmaterial, aber auch Zusammenstellungen empirischer Grundlagenforschung zu Vorurteilen und ihren politischen Konsequenzen.

Die (Co-)Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat einschneidende Effekte auf die politische Unterstützung der Demokratie in Deutschland. Im Zuge der (Co-) Radikalisierungsprozesse kommt es zu einer Ausbildung einer anti-demokratischen politischen Kultur. Die Entwicklungen der (Co-)Radikalisierung in Bezug auf die politischen Einstellungen verlaufen phasenweise parallel und mit Bezug auf die jeweilige (politische) Gemeinschaft. Sie münden in eine Ablehnung der bestehenden Demokratie in Deutschland. Dies spiegelt sich auch im Wunsch nach einem politischen System, das die eigenen, nicht-demokratischen Werte verkörpert und bekräftigt. Das Teilprojekt 1 setzt dabei an verschiedenen Bereichen der Radikalisierungsspirale an. Im Fokus der Analyse stehen die Bedeutung von Bedrohungsperzeptionen, Vorurteilen und des gesellschaftlichen Rückzugs in radikalisierte Gemeinschaften. Außerdem werden die Wechselwirkungen von Diskriminierungserfahrung und der (Co-)Radikalisierung unter (nicht-)muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfasst. Um daraus letztlich präventive Handlungsimpulse zu entwickeln, findet im Projekt eine Wissenschafts-Praxis-Vernetzung in der Rhein-Ruhr-Region statt.

Das Teilprojekt 2 erforscht, warum sich junge Menschen radikalisieren. Welche sozialen, religiösen und theologischen Faktoren haben Einfluss auf den Radikalisierungsprozess? Dabei werden besonders familiäre, gesellschaftliche und milieuspezifische Einflüsse erfasst. In den Fokus rücken damit Familie und Moscheegemeinden als Sozialisationsinstanzen, in denen religiöse Erziehung und Bildung stattfindet. Das Projekt möchte herausfinden, inwieweit der Islamdiskurs zu Radikalisierungsprozessen beiträgt. In diesem Zusammenhang werden Ausgrenzungserfahrungen und Protestverhalten bei radikal-islamischen Ideologien analysiert. Ein weiterer Ansatz konzentriert sich auf milieuspezifische Bedingungen, etwa die Frage, welche theologischen Konzepte und geistigen Väter für ein radikales Verständnis des Islam mitverantwortlich sind. Da Radikalisierungpotenziale bei Konvertit:innen besonders hervortreten, wird diese Gruppe spezifisch untersucht.

Zur Beantwortung der Forschungsfragen greift das Teilprojekt auf qualitative Expert:inneninterviews mit Präventionsakteuren und Lehrkräften des Islamischen Religionsunterrichts zurück. Es werden außerdem biografische Interviews und Gruppendiskussionen mit jugendlichen und post-adoleszenten Muslim:innen durchgeführt. Ziel der Forschung ist es, aus den Erkenntnissen Hinweise für neue Ansätze der Präventionsarbeit zu generieren.

Rauf Ceylan arbeitet migrations- und religionssoziologisch. Seine Schwerpunkte liegen in der Erforschung von neo-salafistischen Strömungen und Radikalisierungsprozessen, des islamischen Religionsunterrichts und der religiösen Orientierungen von muslimischen Religionslehrer:innen sowie der Moscheegemeinden und der Rolle von Imamen. Im RIRA Konsortium untersucht er in Kooperation mit den PTs Decker, G. Pickel, Lütze, Uslucan sowie WPT Krumpholz Schüler:innen, Jugendliche und junge Erwachsene mithilfe von biographischen Interviews sowie Religionslehrer:innen und angehende Religionslehrer:innen mit Blick auf Radikalisierung hemmende Einstellungen und Unterrichtskonzeptionen (in Kooperation mit PT G. Pickel, Spielhaus).

Das Teilprojekt 3 analysiert islambezogene Unterrichtsmaterialien für den Geschichts-, Geographie- sowie Politik-/Sozialkundeunterricht. Darunter werden Lehrpläne, Schulbücher und ergänzendes (Online-)Material von Sekundarstufe I und II ausgewertet. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf religiösen, kulturellen bzw. kulturalisierenden und politische Implikationen bzw. Leerstellen. Dabei wird herausgearbeitet , welchen Einfluss relevante Lernpfade und Lernorte auf das Islambild haben. Die Erkenntnisse der Analyse fließen in die Entwicklung pädagogischer Konzepte und Unterrichtsmaterialien. Diese können im Projekt RIRA experimentell getestet werden. Die Materialien werden auf der vom GEI betriebenen Webplattform www.zwischentoene.info veröffentlicht.

Gemeinsam mit dem Museum für Islamische Kunst in Berlin veranstaltet das Projekt Workshops mit Verlagen und Schulbuchautor:innen und berät diese Zielgruppe außerdem in fachlichen Fragen zum Thema Islam. Ziel dieses Angebots ist es, zu einem vielfältigeren und diversitätssensiblen Islambild in Bildungsmedien beizutragen, die das Thema Islam nicht nur als Religion und Theologie behandeln, sondern auch das vielfältige künstlerische und wissenschaftliche Schaffen in islamisch geprägten Regionen sichtbar werden lassen. Außerdem wurde im Rahmen des Projekts eine Webtalkreihe durchgeführt, um verschiedene pädagogische und schulrechtliche Aspekte im Umgang mit islamistischen und rassistischen Anschlägen zu diskutieren. Eine Broschüre fasst die wichtigsten Inhalte der elf Webtalks zusammen. Außerdem präsentiert sie Unterrichtskonzepte zu Bildern, Satire und Humor im Islam, dem Umgang mit Gewaltbildern sowie Unterrichtsempfehlungen von Fachdidaktiker*innen für Politik- und Religionsunterricht.

Das Leipziger Teilprojekt von RIRA verbindet verschiedene empirische Analysen von Radikalisierung und Co-Radikalisierung mit besonderem Blick auf das Alltagsleben. Mit einer Mischung aus Sekundäranalysen, Experimentellen Erhebungsdesigns, Gruppendiskussionen, Expert:inneninterviews, sowie der Beteiligung an der RIRA-Bevölkerungsbefragung werden Radikalisierungsprozesse multiperspektivisch untersucht. Dabei werden anschließend an die langjährigen Forschungen der Leipziger Autoritarismus Studien die gesellschaftlichen Umstände von Radikalisierung genauso beleuchtet wie ihre sozialpsychologischen Begründungen. Es kann bereits festgestellt werden: Wenn die Handlungsfähigkeit und die Kontrolle der eigenen Umwelt als bedroht wahrgenommen werden, verändert sich das soziale Denken und Handeln. Auch antimuslimische Vorurteile und rassistische Diskriminierung prägen Radikalisierungsprozesse im rechten politischen Spektrum. Vor allem eine aufgeladene Atmosphäre in der Bevölkerung erweist sich als Einstieg in eine Radikalisierungsspirale.

Die erzielten Ergebnisse des Teilprojekts werden in pädagogische Konzepte und Empfehlungen für Bildungsinstitutionen eingebracht. Die Annahme der Forscher:innen ist, dass die Wahrnehmung des Islam im Ethik- und Religionsunterricht einen signifikanten Einfluss auf das Islambild Heranwachsender hat. Deshalb wird das entwickelte Material einen besonderen Fokus auf den Religionsunterricht haben. Das Leipziger Teilprojekt berücksichtigt zudem in besonderem Maß die spezifische gesellschaftliche und politische Lage in Ostdeutschland, welche durch eine besonders hohe Ablehnung „des Islam“, geringe Kontakte zu Muslim:innen und starke rechtsradikale Tendenzen geprägt ist.

Das Teilprojekt 5 führt die Erkenntnisse von RIRA mit Sekundärdaten zusammen und untersucht sie systematisch auf Prozesse der Co-Radikalisierung und Polarisierung sowie deren Folgen. Es integriert dabei beispielsweise die Leipziger Autoritarismusstudie sowie Daten zu politischen Einstellungen und zur Religiosität von Türkeistämmigen, die das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) erhoben hat. Auch die Erkenntnisse früherer Studien zu „Autoritarismus und Gewaltneigung“ von deutschen und türkischen Jugendlichen werden einbezogen.

Ein weiteres zentrales Ziel des Teilprojektes wird es sein, über Gruppendiskussionen insbesondere mit türkeistämmigen Jugendlichen die Motive von Radikalisierung und Demokratiedistanz, aber auch die Folgen von Abwertungserlebnissen herauszuarbeiten. Die gewonnenen Ergebnisse werden so aufbereitet, dass sie in die pädagogische Praxis des islamischen und des christlichen Religionsunterrichts implementiert werden können.


Film "Das Projekt RIRA" | Länge 2"10' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann | PRIF 2021

Woran arbeitet RiRa gerade? Bei einem Projekttreffen in Leipzig im Oktober 2021 berichten Prof.in Dr.in Susanne Pickel, Prof.in Dr.in Riem Spielhaus und Prof. Dr. Gert Pickel über Perspektiven, aktuelle Prozesse und die pandemischen Herausforderungen in ihrer Forschung. Mehr lesen ...