Leitung:
Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen:
Laufzeit: 09/2020 – 08/2023
Islamismus stellt sowohl für die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft als auch für muslimische Communities in Deutschland eine erhebliche Herausforderung dar. Schon länger wird argumentiert, dass islamistische Akteur:innen gezielt versuchen, muslimische Gemeinschaften unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Verrats zu delegitimieren und alternative Lebensentwürfe als unislamisch zu brandmarken.
Das Projekt „Deutscher Islam als Alternative zum Islamismus?“ (D:Islam) untersuchte, welche Auswirkungen Islamismus auf muslimische Communities in Deutschland hat und ob ein „Deutscher Islam“ jenseits von normativen oder politischen Vorgaben in Gemeinden, Verbänden und der Zivilgesellschaft entstanden ist. Es analysierte zudem, welche Substanz und Konturen er im Spannungsfeld zwischen antimuslimischem Rassismus und islamistischem Extremismus entwickelt.
Das Projekt verfolgte einen Mixed-Methods-Ansatz, bei dem sowohl qualitative als auch quantitative Methoden zum Einsatz kamen. Anhand von 3.000 TikTok-Videos muslimischer Content Creators wurden islamistische Phishing-Strategien und digitale Radikalisierungsmechanismen untersucht. Dabei wurde unter anderem das programmatische Social Media-Angebot von extremistischen und deradikalisierenden Accounts bzgl. der narrativen Überzeugungsarbeit verglichen. Zudem hat das Projekt qualitative Interviews mit sechs muslimischen Frauenorganisationen geführt, um deren Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus sowie religiös begründetem Extremismus zu erfassen. Anschließend wurde die gesellschaftliche Aushandlung eines „Deutschen Islam“ als Antwort auf revisionistische und essentialistisch-partikularistische Islamismus-Ansätze untersucht.
Die Studie zeigt, dass die Zukunft eines „Deutschen Islam“ entscheidend von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen abhängt. Während islamistische und antimuslimische Strömungen versuchen, die Entwicklung eines pluralistischen Islammodells in Deutschland zu verhindern, gestalten muslimische Communities aktiv alternative Identitätsmodelle. Die digitale Welt spielt dabei eine immer größere Rolle. Sie ist nicht nur ein Ort der Radikalisierung, sondern auch eine Plattform für innovative islamische Advocacy-Arbeit.
Im Themenkomplex (1) Islamistisch-extremistische Phishing-Strategien wurde untersucht, wie entsprechende Akteur:innen versuchen, online Mitglieder in muslimischen Communities zu rekrutieren.
Die Analyse hat gezeigt, dass islamistische Akteur:innen Social Media-Plattformen, insbesondere TikTok, gezielt nutzen, um junge Muslim:innen zu rekrutieren. Sie setzen auf algorithmische Verstärkung durch personalisierte Inhalte, die gezielt Unsicherheiten und Ausgrenzungserfahrungen ansprechen. Zudem zeigt sich, dass islamistische Online-Strategien sich nicht an Radikalisierungsbereite richten, sondern an bereits Radikalisierte, um sie ideologisch weiter zu festigen. Dabei wird auf exklusives Wissen und spezifische ideologische Vorannahmen zurückgegriffen.
Der Themenkomplex (2) Community Defense fokussierte den Umgang muslimischer Communities mit Versuchen islamistischer Einflussnahme. Dabei lag ein Hauptaugenmerk darauf, wie muslimische Frauenorganisationen mit Bedrohungen umgehen.
Die Analyse hat gezeigt, dass muslimische Frauenorganisationen in hohem Maße von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. Dieser äußert sich sowohl auf diskursiver Ebene, beispielsweise durch subtile oder explizit geäußerte Vorurteile, Misstrauen und Generalverdacht, Diffamierungen und Verleumdungen. Auf materieller Ebene zeigt sich dies beispielsweise in der Ablehnung von Förderanträgen.
Islamistische Einflussnahme wurde weniger als akute Bedrohung wahrgenommen. Dagegen berichteten einige Organisationen von Versuchen islamistischer Akteur:innen, ihre Arbeit zu diffamieren oder zu instrumentalisieren.
Die Umgangsstrategien mit islamistischen Akteur:innen umfassen Konfrontation, Antwortverweigerung, Löschen von Social Media-Posts und Sensibilisierung (von Communities und vulnerablen Gruppen).
Im Themenkomplex (3) „Deutscher Islam“ wurden schließlich die obigen zwei Themenkomplexe zusammengeführt, um empirisch belastbare Anhaltspunkte für die Theoretisierung des Konzepts „Deutscher Islam“ zu generieren.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Genese eines „Deutschen Islam“ maßgeblich durch gesellschaftliche Konflikte beeinflusst wird. Dabei entsteht ein bipolares Spannungsfeld zwischen antimuslimischem Rassismus und islamistischem Extremismus. Während islamistische Akteur:innen das Narrativ eines „verratenen Islam“ propagieren, nutzen antimuslimische Akteur:innen die Vorstellung eines „fremden Islam“, um exkludierende Diskurse zu rechtfertigen.
Technologische Transformationen, insbesondere algorithmisch verstärkte Radikalisierungsstrategien, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die digitale islamische Advocacy-Arbeit stellt somit ein entscheidendes Gegengewicht dar, indem sie hybrid Aushandlungsprozesse unterstützt, die offen für Ambivalenzen sind.
Film "Das Projekt D:ISLAM" | Länge 2"06' | Realisation Ute Seitz | PRIF 2023