Eckdaten

Leitung: 

  • Dr. Jörn Thielmann, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) / Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE)

Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen:

  • Charlotte Jawurek
  • Tina Brosi
  • Dr. Fatma Aydinli
  • Dr. Ertuğrul Şahin
  • Katharina Weinmann
  • Inken Okrug
  • Katharina Weinmann
  • Dr. Serdar Aslan

Laufzeit: 10/2020 – 09/2024

Teilprojekte

 TP 1: Prof. Dr. habil. Dr. Patricia Wiater-Hellgardt (FAU)
 TP 2: Prof. Dr. Tarek Badawia (FAU)
 TP 3: Prof. Thomas Schmitt (Uni Heidelberg)
 TP 4: Dr. Stephanie Müssig (EZIRE)
 TP 5: Dr. Nina Nowar (EZIRE)
 TP 6: Dr. Jörn Thielmann (EZIRE)

Organigramm

Praxispartner

  • Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN) (Website)
  • Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Website)

Wechselwirkungen islamistischer Radikalisierung im gesellschaftlichen und politischen Kontext betrachtet (Wechselwirkungen)

Gesellschaftliche Wirkungen von Islamismus in Deutschland und Europa untersuchen

Wie nehmen Muslim:innen die durch islamistische Radikalisierung ausgelösten Veränderungen in Form von Politiken, Diskursen und Praktiken wahr? Wie reagieren sie, nach innen und nach außen? Was wird eigentlich in muslimischen Milieus diskutiert, was gelehrt, was gepredigt? Auch wenn in der Öffentlichkeit Einschätzungen dazu zirkulieren, gibt es kaum empirisch gesicherte, wissenschaftliche Kenntnisse darüber. Das Forschungsprojekt füllt diese Lücke und analysiert die Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft und muslimischen Bürger:innen in Deutschland. Es fokussiert erstmals konsequent die muslimische Perspektive auf islamistische Radikalisierung. In sechs Bereichen untersucht das Projekt die gegenseitige Beeinflussung von Akteur:innen aus Politik, Gesellschaft und muslimischen Gemeinschaften. Dabei stehen Wechselwirkungen im Fokus, die durch islamistische Radikalisierung und Reaktionen darauf entstehen, etwa auf politischer, gesetzlicher, polizeilicher oder gesellschaftlicher Ebene.

Das Projekt setzt transdisziplinäre Methoden ein: Die Teilprojekte arbeiten mit qualitativer wie quantitativer sozialwissenschaftlicher Forschung, texthermeneutischen Verfahren oder Rechtsvergleichung. Die Erkenntnisse werden kontinuierlich und systematisch in die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit transferiert, wodurch im Dialog neue Probleme identifiziert und Fragen generiert werden können. Diese Rückbindung an die Praxis und die Untersuchungsfelder wird forschungsbegleitend durch verschiedene Formate realisiert, darunter Workshops, Briefings und moderierte Begegnungen. Das Verständnis der beforschten Wechselwirkungen soll es Akteur:innen aus Politik, Verwaltung, Sicherheit, Justiz und Zivilgesellschaft ermöglichen, zielgenaue und angemessene Maßnahmen zur Deradikalisierung und Prävention zu ergreifen. Zudem sichert die Zusammenarbeit mit muslimischen Gemeinschaften - als selbstverständliche Partner:innen - die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der ergriffenen Maßnahmen.

Seit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 wurden die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen im sog. Anti-Terror-Kampf weltweit stetig verschärft. In den Befugnissen signalisieren Gesetzgeber, Behörden und Gerichte die Bereitschaft, nicht nur auf konkrete terroristische Bedrohungen zu reagieren, sondern terroristische Risiken mit dem Konzept „vorsorgender Sicherheitspolitik“ zu reduzieren. Damit wird die Strafbarkeit terroristischer Täter:innen zeitlich vorgelagert und sachlich ausgeweitet, ebenso wie sicherheitsbehördliche Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse und die Abschiebung ausländischer terroristischer Gefährder:innen. Ein – politisch und rechtlich – in Kauf genommener „Kaskadeneffekt“ eines solchen Konzepts vorsorgender Sicherheit ist, dass sich der Personenkreis vergrößert, der von Sicherheitsmaßnahmen betroffen ist. Er erfasst auch Muslim:innen in ihren grund- und menschenrechtlichen Freiheitsrechten, die entweder gar nicht dem radikalisierten Islam zugehörig sind – oder, wie im Kontext der migrationsrechtlichen Abschiebungsanordnung, „lediglich“ mit diesem sympathisieren.

Darum analysiert das Projekt in einem ersten Schritt grund- und menschenrechtliche Belastungen, die durch Anti-Terrorismus-Maßnahmen auf die Adressaten und auf betroffene Dritte entstehen. Ein besonderes Augenmerk liegt darauf, ob und inwieweit sich spezifische grund- und menschenrechtliche Überbelastungen von Muslim:innen ausfindig machen lassen, die in der Studie unter dem Begriff der „Kaskadeneffekte“ systematisiert und anhand grund- und menschenrechtlicher Standards bewertet werden.

Der Islamische Religionsunterricht (IRU) ist im Laufe der bisherigen Erprobungsphase zu einem sensiblen Aushandlungsraum geworden, in dem disparate Erwartungen und Ansprüche von Staat und muslimischer Gemeinschaft aufeinandertreffen. Es droht – so die Ausgangsthese des Projektes – eine Vertrauenskrise zwischen Staat und muslimischer Gemeinschaft, an der sich Radikalisierungspotenzial entzünden kann. Daher bearbeitet dieses Teilprojekt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive die wichtige Frage zur präventiven oder radikalisierenden Wirkung des Islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen. Die Dynamik der aufgeführten Wechselwirkung soll anhand von drei Dimensionen der Problemwahrnehmung unter Muslim:innen empirisch erfasst werden. Die folgenden drei Dimensionen beschreiben die Akzeptanzproblematik in der muslimischen Gemeinschaft und zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der Islamismusprävention durch die Institutionalisierung des IRU:

  1.  Die Kontroverse über die (Un-)Realisierbarkeit eines IRU begünstigt unter muslimischen Communities die Entstehung von Wahrnehmungsmustern der Ungleichbehandlung und sogar von struktureller Diskriminierung. Viele Muslim:innen erleben die noch nicht geklärte Stellung des IRU als Ablehnung ihrer Interessen und Bedürfnisse.
  2. Die Euphorie über das neue Schulfach war stets von einer tiefen Skepsis gegenüber dem konfessionellen Charakter des IRU begleitet. Für das Teilprojekt ergeben sich wichtige Teilfragen danach, ob sich die Eltern und Verbände mit ihren Theologien in den jeweiligen IRU wiederfinden.

  3. Die Professionalität der Islam-Lehrkräfte erwies sich nach der bisherigen Erprobungspraxis als ein sehr dringendes Praxisproblem. Der vorübergehende rechtliche (Sonder-)Status des IRU erschwert die Position der Islam-Lehrkräfte enorm. Die Fragen nach der „theologischen Kompetenz“, nach der „Lehrerlaubnis“ (iğāza) und nach der „theologischen Deutungshoheit“ können zu schwierigen Spannungen und Infragestellung der Fachkompetenz einer Islam-Lehrkraft im schulischen Kontext führen.

Das Projekt untersucht die Akzeptanzproblematik des IRU anhand der o.g. drei Dimensionen mit Fallstudien in acht Bundesländern. Dadurch soll der großen Verschiedenheit der Organisation des IRU Rechnung getragen werden. Ausgewählt wurden nach aktueller Voranfrage bei den zuständigen Behörden 26 Städte.

Das Projekt erkundet in einem ersten Schritt Wechselwirkungen bzw. mögliche Co-Radikalisierungsprozesse in Stadtgesellschaften, nämlich zwischen anti-muslimischen Akteuren und Gruppierungen des radikalen Islam, sowie deren Auswirkungen auf weitere Bereiche der Stadtgesellschaft, insbesondere auch auf weitere muslimische Gruppierungen. Hierzu werden diese Prozesse zunächst mit Diskursanalysen sowie mit Einzel- und Gruppeninterviews erfasst. Interessant sind dabei auch die Folgen entsprechender Co-Radikalisierungen oder Wechselwirkungen auf unterschiedliche muslimische Milieus. Im nächsten Schritt wendet sich das Projekt verschiedenen Kommunikations-, Bearbeitungs- und Moderationsformaten zu, die z.B. als Reaktion auf entsprechende Radikalisierungsprozesse eingerichtet wurden. Diese werden u. a. mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung begleitet. Dabei konzentriert sich das Projekt auf vier Stadtregionen in Dresden, Erfurt, Frankfurt a. M. sowie Mannheim/Ludwigshafen. Bewusst werden dabei gleichermaßen ost- wie westdeutsche Kontexte berücksichtigt.

Der zweite Erhebungs- und Analysebereich des Projekts nimmt die Erfahrungen aus den Stadtregionen als Ausgangspunkt, um die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer gesellschaftlich produktiven Islamkritik aufzugreifen: einer Islamkritik, welche Problembereiche offen anspricht, aber zugleich (Co-)Radikalisierungsprozesse gerade nicht unterstützt. Die Auswertungen aus den stadtbezogenen Untersuchungen werden dabei gemeinsam mit Expert:innen unterschiedlicher Tätigkeitsfelder diskutiert und im Hinblick auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit und Übertragbarkeit reflektiert. Angesprochen sind Personen aus der Dialogarbeit und Extremismusprävention, interdisziplinäre Wissenschaftler:innen und Muslim:innen aber auch Islamkritiker:innen. In einer abschließenden empirischen Phase sollen in Planspielen Ansätze getestet werden, die aus diesen Überlegungen abgeleitet wurden.

Das Gefühl, diskriminiert, zurückgewiesen und feindselig behandelt zu werden, hat reale Folgen. Menschen, die diese Erfahrung machen, tendieren beispielsweise zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und zu Unzufriedenheit mit ihrem Leben. Studien attestieren darüber hinaus, dass Diskriminierungserfahrungen mit Einstellungs- und Verhaltensänderungen zusammenhängen.

Muslim:innen fühlen sich häufiger diskriminiert als andere Bevölkerungsgruppen in Deutschland, dabei stehen systemische Diskriminierungserfahrungen im Vordergrund. Im Vergleich zu Diskriminierung auf persönlicher Ebene führt dies zu einem stärkeren Vertrauensentzug gegenüber gesellschaftlichen und politischen Institutionen, zu einer Unzufriedenheit mit dem politischen System oder zur Infragestellung demokratischer Normen und Werte. Deshalb ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen systemischer Diskriminierung und Einstellungen, Emotionen und Handlungsweisen zu kennen und eine Vorstellung von den mikroanalytischen (sozial-)psychologischen Prozessen zu haben, die diesem Zusammenhang zugrunde liegen. Bisher fehlen jedoch Daten für Deutschland, die untersuchen, welche Effekte systemische Diskriminierungswahrnehmung auf Änderungen in Einstellungen und Verhalten bei Muslim:innen hat. Besonders fehlt hier bisher der Nachweis eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs.

Dies untersucht das Teilprojekt mit einem randomisierten kontrollierten Experiment - erstmalig für Deutschland im experimentellen Setting.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden islamische Internetforen v.a. mit dem radikalen Islam assoziiert oder als potenzielle Orte der Radikalisierung und der Verbreitung von Propaganda verstanden. Insofern stellt die öffentliche Wahrnehmung islamischer Onlineforen für die mehrheitlich szenefernen Muslim:innen insofern ein Problem dar, als dass auch ihre digitale Kommunikation als Ort möglicher Radikalisierung verstanden und ihnen mit Misstrauen begegnet wird.

Dieses Projekt nimmt verschiedene szeneferne, deutschsprachige Facebookgruppen für muslimische Frauen in den Blick, welche nicht für den Austausch über den Islam, sondern für den Austausch über Alltagsthemen angeboten werden, darunter u.a. Haushalts- und Dekorationsgruppen, Koch- oder auch Abnehmgruppen. Es wird untersucht, zu welchen Themenbereichen – wie z.B. Ehe, Kindererziehung oder Bildung – und in welcher Form dort islamische Normsetzung stattfindet. Im Zentrum steht die Frage danach, wie die muslimische Frauencommunity auf islamische Normsetzungen reagiert und welche Argumente und Quellen in der Diskussion zur Anwendung kommen. Dabei werden die muslimischen Frauen nicht mit gängigen Stereotypen als potenzielle Opfer oder Täterinnen stigmatisiert, sondern in ihrem Potenzial als Mitglieder der Mitte der Gesellschaft wertgeschätzt. Für die Auswertung treten die Sprecherinnen in ihrer Individualität in den Hintergrund. Die Chatverläufe der Frauen werden mit dem Ziel analysiert, neue Möglichkeiten der Online-Präventionsarbeit auszumachen, welche auf dem Umgang der deutschsprachigen muslimischen Community mit islamischer Normsetzung selbst beruhen.

Ziel der Studie ist es, innerislamische Kommunikationsmuster aufzugreifen und über sie praxisrelevante Erkenntnisse über die geschlechter- und religionssensible Präventionsarbeit zu gewinnen. Das Projekt erstellt eine qualitative Inhaltsanalyse und eine Online-Ethnografie in verschiedenen Facebookgruppen muslimischer Frauen. Expert:inneninterviews liefern zusätzliche praxisrelevante Informationen zur Erarbeitung von Handlungsempfehlungen.

Islamische Predigten in Deutschland gelten in der Öffentlichkeit oft als Quelle von Radikalisierung. Muslimische Verbände hingegen verstehen sie als ihr Gegenmittel. Trotz der Bedeutung für das islamische Glaubensleben sind islamische Predigten bislang auch im globalen Kontext wissenschaftlich kaum erforscht worden, sondern eher Gegenstand journalistischer Darstellung. Dieses Teilprojekt widmet sich der notwendigen gesellschaftspolitischen Debatte und der Komplexität des Themas mit einer systematischen, methodischen und interdisziplinären wissenschaftlichen Analyse der Freitagspredigten. So können damit verbundene Probleme besser verstanden werden und (mit islamischen Theolog:innen, Imam:innen und muslimischen Verbänden) an Reformen bezüglich ihrer Inhalte gearbeitet werden.

Das Projekt vergleicht, ob die von den Verbänden bundesweit vorgegebenen Predigten auch tatsächlich gehalten werden oder ob z.B.auf eigene Inhalte oder die  Predigten der türkischen Diyanet zurückgegriffen wird. Zudem wird systematisch untersucht, ob sich die türkische und die deutsche Fassung der jeweiligen Freitagspredigt unterscheiden. In Fokusgruppeninterviews mit Muslim:innen und islamischen Theolog:innen sollen ferner Predigtauszüge zur Diskussion gestellt werden, um am Projektende zielführende Handlungsempfehlungen für muslimische Verbände und die Politik erarbeiten zu können.

Die für die Auswertung gesammelten Predigten werden in einem systematisch erschlossenen Predigtarchiv zusammengeführt und am Projektende öffentlich zugänglich gemacht.


Film "Das Projekt Wechselwirkungen" | Länge 1"56' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann // Sophie Senf | PRIF 2023

Wie wirken sich gesellschaftliche Diskurse um Islamismus auf muslimische Communitys aus? Welche Folgen haben Maßnahmen gegen Radikalisierung für sie? Diese Frage beleuchtet das Projekt „Wechselwirkungen“ aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. Im Interview verdeutlicht Projektleiter Dr. Jörn Thielmann, wie wichtig es ist, Stimmen aus muslimischen Communitys abzubilden. Er berichtet außerdem von der Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Forschungsverbund und verrät erste Erkenntnisse des Projekts.