Woran arbeitet eigentlich... Deutungsmacht?

Dezember 2023

Film "Das Projekt Deutungsmacht" | Länge 1"40' | Realisation Shaimaa Abdellah // Ute Seitz | PRIF 2023

Was genau bedeutet das Phänomen der 'religiösen Überbietung' im Islam und welche Rolle spielt es in der Radikalisierung? Diese Frage beleuchtet das Projekt „Deutungsmacht“, das die Konkurrenzstrategien des Salafismus in Krisenzeiten untersucht. Im Interview erklärt der Projektleiter Dr. Youssef Dennaoui, wie diese Überbietungsstrategien in unterschiedlichen Kontexten, besonders in Marokko und Deutschland, wirken. Er gibt Einblick in die Herausforderungen und die Forschungsansätze zur Interpretation des Begriffs und verrät erste Erkenntnisse des Projekts.

Worum geht es im Projekt ‚Deutungsmacht‘?

Youssef Dennaoui: Das Projekt untersucht das Phänomen der "religiösen Überbietung" (muzayada) im Islam am Beispiel des Salafismus. Darunter wird eine Konkurrenzstrategie verstanden, die nicht den Regelfall religiös-theologischer Auseinandersetzungen im Islam darstellt, sondern in Krisenzeiten auftritt und ungeregelt verläuft. Durch den Einsatz von Überbietungsstrategien werden bestehende islamische Konzepte, Praktiken und Diskurse auf eine zugespitzte - man könnte auch sagen: radikale Weise - definiert, praktiziert und interpretiert. Religiöse Überbietungskämpfe werden zwar von muslimischen Theologen als religiöse Übertreibungen (mughalat) thematisiert, es fehlt jedoch eine fundierte sozialwissenschaftliche Analyse ihrer modernen Kontexte, Verlaufsformen und Folgen.

Wie gehen Sie im Projekt vor?

Youssef Dennaoui: Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht, wie unter den Bedingungen globaler Konflikte religiöse Radikalisierung bei Salafisten entsteht, zeitlich überdauert und lokal attraktiv wird. Um diese Frage zu beantworten, widmen wir uns der diskursanalytischen Rekonstruktion (WDA) salafistischer Positionierungen im Kontext von globalen Konfliktereignissen, konkret dem 1. und 2. Golfkrieg, 9/11, Syrienkrieg/IS, Gaza-Krieg. Dabei nehmen wir die letzten 30 Jahre in Marokko und Deutschland in den Blick. Ziel ist es, den Einsatz salafistischer Überbietungsstrategien in diskursiven Auseinandersetzungen zu identifizieren und ihre Folgen in Krisen- und Konfliktsituationen kontextbezogen zu beschreiben. Dies erfordert eine differenzierte theoretische und methodische Herangehensweise, die den spezifischen Kontexten beider Länder gerecht wird.

Können Sie bereits erste Ergebnisse Ihres Projekts teilen?

Youssef Dennaoui: Unsere ersten Analysen haben bisher ergeben, dass sich religiöse Überbietungshandlungen als ein vielschichtiges Phänomen modellieren lassen, das nicht nur bei Salafisten, sondern bei verschiedenen islamistischen Strömungen auftritt. Ein zentrales Forschungsergebnis ist, dass religiöse Überbietungsstrategien zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Die empirische Analyse dieser Überbietungsstrategien, ihrer Entstehung, ihres Zusammenspiels mit anderen Faktoren im jeweiligen Kontext sowie ihrer gesellschaftlichen Folgen (Polarisierung, Radikalisierung) ist das wichtigste Ergebnis unseres Projekts..

Inwiefern unterscheiden sich die Entwicklungen in Deutschland und Marokko?

Youssef Dennaoui: Es ist sehr interessant, das Agieren und Interagieren radikal-salafistischer Gruppen in zwei völlig unterschiedlichen Kontexten vergleichend zu beobachten und zu analysieren: In Marokko ist der Salafismus ein Massenphänomen, das schon länger existiert und dessen Entwicklung und Auseinandersetzung mit anderen religiösen Strömungen wir gut rekonstruieren können. In Deutschland, wo salafistische Gruppen quantitativ weniger stark vertreten sind, ist es noch schwierig, ihre religiöse Dynamik und ihre Entwicklungsperspektiven genauer zu beschreiben, ohne ihre transnationalen Verbindungen und Bezüge in den Blick zu nehmen. Die Erforschung des Salafismus bzw. Islamismus in Deutschland muss daher beide Phänomene stärker in ihrem globalen Kontext betrachten, ohne die lokalen Spezifika (Migrationserfahrung, Diskriminierung, Islamfeindlichkeit usw.) aus dem Blick zu verlieren. 

Was sind Ihre Annahmen zum Zusammenhang zwischen Überbietung und Radikalisierung im Salafismus/Islamismus?

Youssef Dennaoui: Überbietung bedeutet, eine Gegenposition in ungeregelter Weise zu überhöhen, um eine alternative Sichtweise/Praxis an ihre Stelle zu setzen. Radikalisierung hingegen bedeutet, eine Randposition im Feld einzunehmen, von der aus alles andere als falsch bezeichnet wird. Typischerweise geht der Radikalisierung eine Polarisierung voraus, bei der sich innerhalb einer gesellschaftlichen Debatte im Islam nicht nur Positionen, sondern auch religiöse Pole (Traditionalisten, Islamisten, Salafisten etc.) herausbilden, die miteinander um die richtige/wahre Deutung/Praxis konkurrieren. In bestimmten Konfliktsituationen kann dieser Wettstreit in ungeregelte Bahnen geraten und sich überbietungsartig fortsetzen, ohne dass der Verlauf und die Folgen von den Kontrahenten kontrolliert oder überblickt werden können.  Polarisierungs-, Radikalisierungs- und Überbietungsprozesse sind daher eng miteinander verbunden.

Wie hängen Überbietungskämpfe mit politischen Ereignissen zusammen?

Youssef Dennaoui: Die Genese und Transformationen der radikal-salafistischen Szene weltweit lassen sich im Kontext globaler politischer Konflikte/Ereignisse gut dokumentieren. Es besteht - so die These des Projekts ‚Deutungsmacht‘ - ein innerer Zusammenhang zwischen globalen Konfliktereignissen und der Entstehung sowie Etablierung einer radikal-salafistischen Ideologie, die in den letzten 30 Jahren verschiedene Transformationen durchlaufen hat. Im Kontext der globalen Konflikte der letzten drei Jahrzehnte haben ‚Radikalisierungsunternehmer‘ aus dem salafistischen Spektrum immer wieder versucht, die eigene Ideologie entlang neuer Konflikte anzupassen und durch Überbietungsstrategien zu schärfen. Hier ist es wichtig zu erkennen, dass religiöse Diskurse oft politisch genutzt werden, um bestimmte Gefühle unter Muslim:innen anzusprechen, was auf eine Verschmelzung von Religion und Politik, insbesondere im radikalen Spektrum, hinweist. Unsere Analyse umfasst daher auch soziale bzw. politische Aspekte des Phänomens der religiösen Überbietung.

Wie haben sich die Diskurse und rhetorischen Strategien der Salafisten in Konfliktsituationen konkret entwickelt und verändert?

Youssef Dennaoui: Religiöse Überbietungsdiskurse treten verstärkt im Kontext bestimmter Konfliktereignisse auf. Unsere Diskursanalyse bezieht sich auf drei Konfliktereignisse. In der Phase nach dem 2.Zweiten Golfkrieg (1990) nahmen die ungeregelten Auseinandersetzungen (Überbietungen) weltweit zu. Die Debatten und die religiöse Sprache wurden aggressiver, schärfer und radikaler. Eine ähnliche Entwicklung nahm der globale salafistische Diskurs im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September in New York. Ein weiteres wichtiges Ereignis war der Arabische Frühling. Seit 2011 beobachten wir einen signifikanten Anstieg salafistischer Aktivitäten in islamisch geprägten Gesellschaften wie Ägypten, Tunesien oder Marokko. Die salafistische Stimme ist lauter, selbstbewusster, aber rhetorisch kontrollierter geworden, erkennbar an der Abkehr von bestimmten dschihadistischen Topoi oder der Teilnahme an Wahlen, etwa in Ägypten, Tunesien oder Marokko. Die Analyse dieser Entwicklungen ist meines Erachtens entscheidend, um Prognosen über die Entwicklung salafistischer Ideologien treffen zu können.

Marokko ist in der Präventionsarbeit gegen Radikalisierung sehr aktiv. Inwiefern könnten wir in Deutschland von Marokkos Ansätzen und Erfahrungen lernen?

Youssef Dennaoui: Marokko hat im Bereich der Radikalisierungsprävention schon früh eine zweigleisige Strategie verfolgt: eine repressive Präventionsstrategie und eine staatliche Umstrukturierung der eigenen Religionspolitik. Nach den Terroranschlägen in Casablanca 2003 erkannte Marokko die Notwendigkeit der Prävention. Die Regierung stärkte traditionelle religiöse Institutionen und stellte Moscheen und andere islamische Einrichtungen stark unter staatliche Kontrolle, um radikalen Strömungen entgegenzuwirken und die Deutungshoheit über den Islam nicht islamistischen Organisationen oder salafistischen Akteuren zu überlassen. Diese Politik setzt stark auf religiös-theologische und weniger auf säkulare Elemente, was wiederum als staatliche Form der ideologischen Überbietung gesehen werden kann. Marokkanische Expert:innen, mit denen ich im Gespräch bin, sehen hier eine Ambivalenz: Religion kann als Element gegen das Radikale wirken, gleichzeitig aber auch die Gesellschaft in eine Richtung drängen, die von der Mehrheitsgesellschaft gar nicht gewollt ist. Die Ambivalenz dieser Ansätze bleibt zu beobachten.

Wie können Ihre Forschungsergebnisse auf wissenschaftlicher und praktischer Ebene genutzt werden?

Youssef Dennaoui: Ziel des Projekts ist es, vergleichende Analysen der innerislamischen diskursiven Dynamiken und Prozesse religiöser Konkurrenzkämpfe am Beispiel des Salafismus zu erarbeiten. Außerdem soll es Präventionswissen gegen religiöse Radikalisierung generieren, das aus den antisalafistischen Gegenstrategien und Gegendiskursen anderer - religiöser und nicht-religiöser - Akteure im Feld des Islam gewonnen und für die Präventionsarbeit konzeptionell aufbereitet werden kann. Dazu ist es unabdingbar, die Differenzen innerhalb der muslimischen Community genau zu analysieren, um zu sehen, welche Gegenstrategien aus den muslimischen Lebenswelten heraus gegen radikal-salafistische Angriffe entwickelt werden. In der Praxis kooperieren wir mit lokalen Moscheegemeinden, islamisch-theologischen Zentren und zentralen Stellen der Radikalisierungsprävention (Wegweiser NRW, CoRE-Netzwerk), um unsere Forschungsergebnisse zukünftig zu diskutieren. Diese Kooperationen ermöglichen es uns, unsere Erkenntnisse auf verschiedenen Ebenen nutzbar zu machen und tragen zu einer differenzierten und pluralistischen Wahrnehmung des Islam bei.

 

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