März 2024
Film "Das Projekt Ressentiment" | Länge 1"52' | Realisation Ute Seitz // Shaimaa Abdellah | PRIF 2024
Özkan Ezli: Das Ressentiment ist eine Affektlage. Wenn eine negative Erfahrung in einer gegebenen Situation nicht ausgetragen wird und später wieder aufkommt, dann produziert das zunächst ein Missverhältnis. Dadurch können Affekte nicht entladen werden, sondern verhärten sich. Im Unterschied zu Wut oder Trauer, die in der Regel in enger Beziehung zu bestimmten Geschehnissen stehen, wird beim Ressentiment ein solch konkretes Verhältnis mit einem Affekt überspült. Es ist ein Zustand, in dem nicht mehr gegenreagiert, sondern viel mehr gegengefühlt wird. Diese Affektlage führt dazu, dass Interaktionen nicht mehr so wahrgenommen werden, wie sie real –in der Regel personen- und sachbezogen – stattfinden.
Levent Tezcan: Es handelt sich um eine besondere Befindlichkeit der Ohnmachtserfahrung. Solche Erfahrungen lösen sich von ihrem pragmatischen Kontext und können zu einem Gefühl der dauerhaften Kränkung werden. Diese Wahrnehmung ist für die Selbstverortung in der Gesellschaft und deshalb auch in einem größeren Kontext relevant.
Levent Tezcan: Wir wählen mit unserem Projekt einen besonderen Zugang zum Thema Radikalisierung. Das heißt, wir wollen die Polarisierung der Gesellschaft über Gefühlslagen in den Blick nehmen und herausfinden, welche Affekte in der Beziehung zwischen der Minderheit und der Mehrheit bestehen. Letztlich stellen wir uns die Frage, wie Polarisierung mit Radikalisierung und mit expliziten Formen der Gewalt verbunden ist.
Wir wollen analysieren, inwiefern sich die Wahrnehmung von negativen Erfahrungen zu einem allgemeinen Bild verdichten können, in dem nur noch Negatives artikuliert und Positives ausgeblendet wird. Dabei stellen wir die Wahrnehmung von Diskriminierung nicht in Frage, sondern kontrastieren sie mit dem Erlebten.
Mouhanad Khorchide: Das Projekt teilt sich in einen quantitativen und qualitativen Teil auf. Da es uns um Gefühle geht, ist der qualitative Zugang besonders wichtig. Gefühle adäquat zu erfassen, war eine große Herausforderung. Gibt es bei einem Befragten ein starkes Gefühl der Kränkung auf der einen Seite und wenig konkrete Diskriminierungserfahrungen auf der anderen Seite, dann können wir schon grob ein Ressentiment gegenüber der Gesellschaft identifizieren.
Levent Tezcan: Das Thema Radikalisierung suggeriert oft, es müsse um sehr spektakuläre Fälle gehen, in denen Menschen offen Hass äußern. Dies ist jedoch eine Verwechslung. Ressentiments sind nicht einfach nur Hass und darauf legen wir besonderen Wert.
Mouhanad Khorchide: Es gibt nicht nur die typischen Radikalisierungswege, sondern auch Phänomene jenseits von Gewalt oder Dschihadismus. Dabei beobachten wir, dass Islamist:innen Prozesse der Instrumentalisierung einsetzen. Kränkungsgefühle werden teilweise bewusst von bestimmten Gruppen produziert. Islamistische Gruppierungen stigmatisieren zum Beispiel „den Westen“ als Feindbild, als Gegner des Islams. Diese große Erzählung bietet eine Grundlage, die Verantwortung für individuelle Misserfolge nicht bei sich selbst, sondern bei „dem Westen“ zu suchen.
Özkan Ezli: Wir sehen, dass die meisten Muslim:innen im Alltag gut integriert sind. Kommt es jedoch zu politischen Themen und zu einem politischen Diskurs, dann fängt das Ressentiment an zu arbeiten. Hier kamen in unseren Interviews unter anderem Verschwörungstheorien und Argumente ins Spiel, die mit der Realität des Alltags nicht mehr in Korrelation stehen. Das heißt, wir haben es mit unterschiedlichen Affektlagen zu tun. Insgesamt können wir also festhalten, dass das Ressentiment tendenziell eher auf der diskursiven Ebene wirkmächtig ist als im Alltag. Beispielsweise verbinden einige Probanden im konkreten Kontakt mit Deutschen beim alljährlichen Tag der Moschee zum Großteil positive Gefühle. Doch bei der Frage, was sie bei der Aussage „Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund“ des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier empfinden, sind ihre Gefühle fast ausschließlich negativ. Das seien verlogene Aussagen, so die Probanden. Diese Dynamik, etwas äußerlich Positives und symbolisch Wertvolles in ihr Gegenteil zu verkehren und damit abzuwerten, ist ein zentrales Kennzeichen von Ressentiments. Sie setzen besonders in diskursiv-politischen Zusammenhängen ein. Da wir besonders medial und diskursiv in einer hochpolitisierten Zeit leben, ist die Analyse von Ressentiments unabdinglich. Ressentiments können eine große Gefahr für Alltag und sozialen Zusammenhalt entfalten, wenn ihre negative Dynamik, ihre negative Affektlage über faktenarme Politisierungen und Abwertungen überhandnehmen und sie anstelle des Alltags, der konkreten Situation, verstärkt als die eigentliche Wirklichkeit gesehen und vor allem empfunden werden.
Mouhanad Khorchide: Wir können auch jetzt schon sagen, dass es sehr wichtig ist, dass in der Politik differenziert gedacht wird. Pauschalisierungen und welt-erklärende Begrifflichkeiten helfen wenig weiter, stattdessen sollten wir uns Einzelfälle genauer anschauen. Nicht überall, wo Islam drauf steht, steckt Islam drin und nicht überall wo Rassismus drauf steht, steckt Rassismus drin.
Levent Tezcan: Wir wollen Potentiale für Ressentiments identifizieren, ihre Funktion verstehen und herausfinden, wie solche Tendenzen gebrochen werden können. Die Ausbildung von Ressentiments zu bremsen, ist eins unserer großen Ziele.
Mouhanad Khorchide: Außerdem möchten wir klare Handlungsempfehlungen aufstellen. Zunächst um der Politik zu zeigen, welche Räume geschaffen werden müssen, um Kränkungen zu vermeiden und gleichzeitig Ressentiments zu erkennen.
Zudem geben wir präventive Handlungsempfehlungen an Moscheegemeinden, den Religionsunterricht und theologische Fakultäten, dort, wo sich Studierende mit dem Islam befassen. Einerseits ist es wichtig, Schutzmechanismen gegen die Instrumentalisierung des Islams zu identifizieren. Andererseits betrachten wir die Rolle von Politik, Gesellschaft und Bildungsinstitutionen, um Kränkungen und Ressentiments frühzeitig zu erkennen und präventiv anzugehen. Das Ziel muss sein, dass auch Muslim:innen als ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft Anerkennung genießen und, dass möglichst wenig Räume für Opferrollen bestehen, die leider von Extremist:innen beider Seiten instrumentalisiert werden, um in der Gesellschaft zu polarisieren.