Woran arbeitet eigentlich ... Distanz?

November 2021

Film "Das Projekt Distanz" | Länge 2"01' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann | PRIF 2021

 

Das Projekt Distanz beschäftigt sich mit Prozessen der (De-)Radikalisierung von islamistischen Strukturen. Es untersucht Ursachen, Wendepunkte und Muster in Abkehrdynamiken. „Diese Prozesse gelten größtenteils noch als Blackbox. Das möchten wir aufbrechen“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Mehmet Kart. Im Interview mit RADIS berichtet er anekdotisch von ersten Erkenntnissen und verweist auf Chancen für die Präventionspraxis, die sich aus seiner Forschung ergeben könnten.

Worum geht es in dem Projekt „Distanz“?

Mehmet Kart: Das Projekt „Distanz“ befasst sich mit Annäherungs- und Distanzierungsprozessen von und hin zu islamistischen Strukturen, Gruppierungen und Einstellungen. Im Zentrum stehen dabei vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. Das Projekt möchte herausfinden, ob es im Distanzierungsprozess einen Wendepunkt gibt - einen Punkt an dem sich eine Abkehr von den islamistischen Strukturen erkennen lässt.

Was ist mit „Distanzierung“ genau gemeint und was erforschen Sie dabei konkret?

Mehmet Kart: Es gibt schon eine Vielzahl an Untersuchungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu den Ursachen und der Genese der Radikalisierung. Unser Fokus liegt hingegen auf der verhaltenstypischen und kognitiven Distanzierung. Diese Distanzierungsprozesse gelten größtenteils noch als Blackbox. Das möchten wir aufbrechen. Dazu fragen wir uns zunächst, inwiefern Distanzierungen überhaupt erkennbar sind, ob sie bestimmten Abläufen oder Mustern folgen und welche Rolle gesellschaftliche Strukturen, soziale Institutionen oder das familiäre Umfeld dabei spielen.

Wie gehen Sie dabei vor?

Mehmet Kart: Wir möchten in erster Linie junge Menschen befragen, die sich in einem Distanzierungsprozess in strukturellem Rahmen befinden, das heißt, aktuell Beratungen in Anspruch nehmen. Wir wollen herausfinden, welche gesellschaftlichen Strukturen und Sozialisationsinstanzen neben den individuellen Gründen in ihrer Distanzierung eine Rolle spielen. Dabei nehmen wir vor allem Familien, Lehrkräfte und beratende Personen in den Blick. Gleichzeitig sind wir aber auch an den Erfahrungen und Wahrnehmungen von Expert:innen aus den Sicherheitsbehörden und Beratungsstellen der Sozialen Arbeit interessiert.

Ihr Projekt „Distanz“ arbeitet sehr eng mit der Präventionspraxis zusammen. Wie sieht diese Kooperation aus und welche Ziele verfolgen Sie damit?

Mehmet Kart: Ein wesentliches Anliegen unserer Forschung ist es, herauszuarbeiten, wie sich möglichst frühzeitig erkennen lässt, dass bei Kindern und Jugendlichen Tendenzen zu islamistischen Einstellungen vorliegen. Mit unserem Projekt möchten wir ein Verständnis darüber entwickeln, welche Instrumente sich in der Präventions- und Interventionsarbeit als hilfreich erweisen könnten, um eine Distanzierung Jugendlicher vom Islamismus zu fördern. Wir werden dazu im Laufe der gesamten Projektdauer zwei Präventionsprojekte begleiten. Eines davon, das Zertifikatsprogramm eines Vereins in Köln, ist auf die Primärprävention ausgerichtet und intendiert das Demokratieverständnis von Schüler:innen und jungen Menschen allgemein zu stärken, da Islamismus auch immer mit einer demokratiefeindlichen Einstellung zusammenhängt. Das zweite Projekt dreht sich um die Sekundärprävention und beschäftigt sich mit der Fortbildung von Lehrkräften.

Warum ist gerade eine Fortbildung der Lehrkräfte von Bedeutung?

Mehmet Kart: Aus ersten Interviews mit Expert:innen haben wir herausgehört, dass Lehrkräfte manchmal sehr unsicher mit ihren eigenen Beobachtungen sind. Wir haben von Beispielen gehört, in denen schon Beratungsbedarf angemeldet wurde, weil ein Mädchen in der Klasse plötzlich ein Kopftuch trug oder ein junger Mann sich einen Bart wachsen ließ. Das zeigt uns, dass Lehrkräfte geschult und in ihrer Kompetenz Radikalisierungstendenzen zu erkennen gestärkt werden müssen. Genau dort setzten wir an und stellen uns die Frage wie sich die Schulung dieser realisieren lässt und vielleicht auch langfristig in schulischen Strukturen verankert werden kann.