Woran arbeitet eigentlich... RadiRa?

November 2021

Film "Das Projekt RadiRa" | Länge 2"17' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann | PRIF 2021

Haben Räume einen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung von Personen? Für diese Frage interessiert sich das Projekt RadiRa und forscht dazu im Bereich des islamistisch motivierten Extremismus. Im Interview mit RADIS berichten Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach und Prof. Dr. Andreas Zick, warum gerade Nischenräume für Extremist:innen attraktiv sind und wie ihre Forschung zu einer Professionalisierung der Präventionsarbeit beitragen könnte.

Womit beschäftigt sich das Projekt RadiRa?

Sebastian Kurtenbach: Im Projekt „Radikalisierende Räume“ untersuchen wir, ob und wie der Raum einen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat. Dabei gehen wir von der Beobachtung aus, dass es aus einigen Stadtteilen großer Städte vermehrt zu Ausreisen in den sogenannten Islamischen Staat kam, oder dass das Personenpotenzial der salafistischen Szene erhöht ist. Das sind erst mal vorwissenschaftliche Beobachtungen, die bestimmte Gründe haben müssen, sonst käme es nicht zu diesen räumlichen Häufungen. Im Projekt „Radikalisierende Räume“ wollen wir untersuchen, ob und wie es einen Kontexteffekt auf Radikalisierungsanfälligkeit gibt und was wir aus einer Raumperspektive dagegen tun können.

Andreas Zick: Wir fragen also danach, welche Räume Radikalisierungspotenzial bergen. Gleichzeitig möchten wir herausfinden, was es für Menschen vor Ort bedeutet, dass in ihrer Nachbarschaft und dem Raum, der ihnen wichtig ist, Radikale und Extremist:innen sind. Was bedeutet das für ihre Lebenszufriedenheit, aber auch für ihre Identität? Dabei ist uns bereits klar, dass sich Menschen mit Räumen identifizieren. Mit Blick auf die Wechselwirkungen zwischen der ideologischen Motivation, der Gruppendynamik und den Umweltfaktoren scheint uns die Erforschung der Rolle von Raum wesentlich.

Wie gehen Sie in Ihrem Projekt vor?

Sebastian Kurtenbach: Unsere Forschung lässt sich in kleinere Teilprojekte untergliedern. Geleitet von der Universität Bielefeld führen wir eine ethnografische Untersuchung durch, die sich drei Stadtteilen in verschiedenen Städten widmet. In diesen wohnt ein Wissenschaftler aus unserem Team je ein Jahr. Ziel ist es, ein Gespür dafür zu bekommen, wie die im Stadtteil ansässige salafistische oder neo-salafistische Szene wahrgenommen wird. Wir wollen also herausfinden, welche Interaktionen es mit der weiteren Stadtgesellschaft gibt.

Dazu haben wir an der Fachhochschule Münster drei weitere Teilprojekte laufen. Eines kümmert sich um die Praxis der Sozialen Arbeit. Da wir uns vor allem armutsgeprägte Stadtteile anschauen, finden wir dort auch viele Angebote kommunaler Sozialpolitik. Wir vermuten, dass diese Arbeit vor Ort auch einen präventiven Effekt hat. Für uns ist es nun interessant zu schauen, was wir aus diesen Strategien lernen können.

Außerdem wollen wir Bevölkerungsumfragen machen, die die Anfälligkeit für Radikalisierung messen sollen. Wir gehen auch hier davon aus, dass räumliche Faktoren eine Offenheit für Radikalisierung oder extremistisches Gedankengut produzieren. An der Fachhochschule Münster untersuchen wir zudem, was die Kommunen in Deutschland bereits zur Extremismusprävention unternehmen. 

Inwiefern könnte der Raum Radikalisierung beeinflussen?

Andreas Zick: Radikalisierungsprozesse, genauso wie Phänomene des Extremismus, Proteste und Anschläge finden in bestimmten Räumen statt. Wir vertreten die These, dass es immer wieder spezifische Räume sind, die Extremist:innen nutzen: Es sind Randräume in Städten. So haben wir beobachtet, dass Gruppen Räume besetzen und dass dabei bestimmte Räume attraktiv für sie sind, um andere zu rekrutieren, für Radikalisierungsprozesse und um zu mobilisieren. Das gilt nicht für alle Räume, denn manchmal verlassen Gruppen Räume auch wieder.

Wir wissen aus den großen Terroranschlägen in Europa, dass bestimmte extremistische Milieus Räume selbst schaffen. Daraus geht hervor, dass extremistische Gruppen – genauso wie alle anderen – ein bestimmtes Umfeld brauchen, in dem sie leben und sich einnisten können, in dem sie ihre Ideologie vorantreiben, Zuspruch und Unterstützung gewinnen und sich unbeobachtet weiterentwickeln können. Wir kennen das in Deutschland aus der sogenannten Sauerland-Gruppe, einer Terrorgruppe, die ganz unauffällig, aber durch Kleidung durchaus sichtbar religiös motiviert in einem sauerländischen Dorf einen sehr großen Anschlag verübt hat.

Mit welchem Raumbegriff arbeiten Sie?

Andreas Zick: Wir sind da sehr offen. Wir untersuchen zum Beispiel Interaktionsprozesse an öffentlichen Plätzen zwischen religiös motiviert extremistischen Menschen und Gruppen vor Ort. Da hat der Raum für uns eine geografische Bedeutung. Aber wir verstehen ihn immer in gewissem Sinne sozial-geografisch und auf der anderen Seite sozial-psychologisch. Wir fragen also: Inwieweit ist der Ort etwas, was objektiv gegeben ist, aber auch für einen Radikalisierungsprozess eine Bedeutung hat? Die Brücke dafür schafft ein sozialwissenschaftliches Verständnis. Es sind die geografischen Räume, die aber identitäts- und selbstwertbildend sind, oder eben auch nicht.

Welche Räume besetzen radikalisierende Akteur:innen und was passiert da?

Andreas Zick: Unsere Hypothese lautet, dass religiös motivierte extremistische Gruppen Räume ganz spezifisch nutzen, um andere zu rekrutieren. Das sind Räume von Menschen, die neu in ein Land gekommen sind und in denen sie Hilfe suchen. Im Verlauf unserer Forschung wollen wir also überprüfen, ob Räume Nischen sind, in denen gerade deshalb Radikalisierungsprozesse stattfinden können, weil sie radikalisierungsanfälligen Menschen Schutzräume bieten.

Das könnten beispielsweise Orte um Moscheen sein. Wir wissen aus der Radikalisierungsforschung, dass die Mobilisierung für den religiös motivierten Extremismus nicht direkt in Moscheen stattfindet, sondern vielleicht davor den Moscheen. All das sind spezifische Suchbewegung bei der Rekrutierung, bei der Mobilisierung, aber auch bei der Beheimatung. Das heißt, dort werden ganz sichtbar objektive Räume geschaffen, wo anderen suggeriert wird: Hier könnt ihr zu uns kommen und frei beten.

Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich?

Sebastian Kurtenbach: Wir hoffen, besser zu verstehen, ob Raum einen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat und wie dieser aussehen könnte. Wenn wir das herausgefunden haben, können wir der Frage widmen, welche Präventionspolitik in den Stadtteilen organisiert werden müsste. Wir wollen also auch herausfinden, wie Prävention vor Ort aussehen muss, bevor etwas passiert und nachdem etwas passiert ist.

Ich habe zum Beispiel als Sozialarbeiter in Dinslaken-Lohberg gearbeitet. Dort wurden diese Perspektiven besonders deutlich: Dinslaken-Lohberg ist ein Stadtteil, der bekannt geworden ist, weil sich dort Jugendliche dem IS angeschlossen haben. Das wurde medial aufgegriffen und belastet bis heute das Gemeinwesen. Im Nachhinein lässt sich vieles über die Radikalisierung der Jugendlichen erklären. Die Frage für uns ist aber: Was macht man im Nachhinein mit dem Stadtteil? Wie geht es den Menschen denn dort? Wie verarbeitet man das als Gemeinschaft?

Andreas Zick: Damit möchte unser Projekt zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit beitragen. Das heißt, zukünftige Sozialarbeiter:innen sollen die Bedeutung von Räumen besser erkennen und Dynamiken der Radikalisierung besser verstehen können. Auf dieser Grundlage lassen sich die Räume anschließend gestalten. Für mich schwebt da auch die hochinteressante Frage mit, wo sich bereits resiliente Räume befinden und wie diese aussehen. Dabei geht es konkret um Räume, wo sich Menschen, die eigentlich die attraktiv sind für extremistisch orientierte Gruppen, nicht rekrutieren lassen.

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