Juni 2023
Film "Das Projekt Wechselwirkungen" | Länge 1"56' | Realisation Ute Seitz // Philipp Offermann // Sophie Senf | PRIF 2023
Jörn Thielmann: Das Projekt „Wechselwirkungen“ schaut weniger auf Radikalisierungsprozesse. Wir beschäftigen uns vielmehr damit, was das Sprechen über Radikalisierung sowie die Maßnahmen gegen Radikalisierung bei betroffenen Gruppen – also in unserem Fall bei Muslim:innen – auslösen.
Jörn Thielmann: In unserem Forschungsverbund gehen wir davon aus, dass Politik, muslimische Communitys und andere gesellschaftliche Gruppen zusammenwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Das alles geschieht in einem Feld, das durch Diskurse und staatliche Maßnahmen gegen sogenannten radikalen Islam gerahmt wird. Mit dem Begriff Wechselwirkungen wollten wir nicht nur „Ursachen und Wirkungen von radikalem Islam“ untersuchen, sondern auch antagonistische Kräfte in den Blick nehmen. Wir wollen das Feld aus der Perspektive von Muslim:innen angehen und uns anschauen, wie muslimische Communitys oder betroffene Gruppen damit umgehen, in einer bestimmten Art und Weise adressiert zu werden. Führen Präventions- und Deradikalisierungsprogramme dazu, dass die deutsche Gesellschaft sicherer wird? Oder befördern sie vielleicht Radikalisierungsprozesse dadurch, dass Menschen durch Maßnahmen und gesellschaftliche oder politische Diskurse diskriminiert und stigmatisiert werden? Dazu wollen wir auch die Widerständigkeit muslimischer Communitys untersuchen.
Jörn Thielmann: Ein Feld, in dem das sehr deutlich wird, ist der Raum Schule: Wir untersuchen beispielsweise in unterschiedlichen Bundesländern, wie islamischer Religionsunterricht organisiert und akzeptiert wird. Besonders anschaulich ist das in Hessen: Hessen war das erste Bundesland, wo ein islamischer Verband – Ditib Hessen – einen solchen Religionsunterricht ausrichten konnte. Das Land Hessen hat diese Möglichkeit allerdings vor zwei oder drei Jahren aufgekündigt und einen eigenen Religionsunterricht in staatlicher Verantwortung eingerichtet. Die Lehrkräfte blieben aber größtenteils dieselben. Meine Kollegin Fatma Aydinli konnte herausfinden, dass diese staatliche Intervention nicht dazu geführt hat, dass zahlreiche Eltern ihre Kinder vom Unterricht abgemeldet haben – obwohl muslimische Verbände dazu aufgerufen hatten. Diese Intervention, die im generellen Diskurs zu Recht auf Ablehnung stößt, weil sie das Neutralitätsgebot verletzt, war den befragten Eltern keineswegs gleichgültig. In Bezug auf den Unterricht ihres Kindes war der entscheidende Faktor jedoch das Vertrauen in die jeweilige Lehrkraft, deren fachliche und pädagogische Kompetenzen und ihr authentisches Muslimsein.
Jörn Thielmann: Die transnationale Dimension findet sich im Feld selbst. So sind etliche Verbände eingebettet in transnationale Bezüge. Millî Görüş sitzt beispielsweise in Köln, bespielt von dort aus aber den halben Erdball. Das ist für unser Projekt sehr relevant. In unserer Forschung zu islamischen Predigten integrieren wir beispielsweise die Wirkungen von Ereignissen außerhalb Deutschlands oder Europas auf das Predigtwesen. Für die türkeistämmigen Verbände war etwa der Militärputsch in der Türkei im Jahr 2016 ein spektakuläres und sehr stark nachwirkendes Ereignis. Das konnten wir deutlich messen, denn danach haben sich sowohl die Predigtlänge als auch die verhandelten Themen verändert. Inhalte, wie die Loyalität zum Staat oder die Treue zur eigenen Tradition fanden plötzlich viel mehr Raum in den Predigten. Das zeigt, dass Muslim:innen in Deutschland nicht isoliert sind, sondern der Islam als globale Religion wirkt. Auch die Diskurse darüber sind global. Sie überschreiten Staatsgrenzen – und auch ein Teil der Akteure und der Verbände ist transnational aufgestellt. Das muss man in den Blick nehmen, denn es spiegelt die Lebenswirklichkeit der Menschen, die in den Moscheen in Deutschland im Rahmen eines solchen Verbandes aktiv sind.
Jörn Thielmann: Unsere Forschung versucht, Menschen eine Stimme zu geben, die von sehr unterschiedlichen politischen Maßnahmen und gesellschaftlichen Diskursen betroffen sind. Das sind Menschen, die trotz 70 oder 80 Jahren in Deutschland immer noch nicht ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind. Wir im Projekt „Wechselwirkungen“ haben eine spezifische, geteilte Perspektive: Wir schauen auf die Auswirkung von Diskursen über Radikalisierung und Maßnahmen gegen Radikalisierung. Aber wir gehen das in sehr unterschiedlichen Themenfeldern und aus verschiedenen disziplinären Perspektiven an und nutzen dafür eine ganze Bandbreite aus Methoden. Wenn ich ein paar Beispiele dafür geben darf: Wir analysieren Gesetzesmaßnahmen im Bereich Extremismus und Terrorismusbekämpfung aus einer vergleichenden Perspektive und nehmen dabei auch die Auswirkungen für unbeteiligte Dritte in den Blick. In einem anderen Teil unserer Forschung untersuchen wir mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden beispielsweise Social-Media-Netzwerke oder islamische Predigten. Außerdem machen wir Experimente oder setzen sehr vielfältige Instrumente der quantitativen Sozialforschung ein, um herauszufinden, wie Diskriminierung auf Betroffene wirkt und welche Effekte sie hat.
Ich denke, normalerweise arbeiten Jurist:innen nicht unbedingt mit islamischen Theolog:innen zusammen. Aber wir profitieren von unseren unterschiedlichen Kompetenzen.